Das Urteil des Schwarms

Bewertungsportale Lehrer, Ärzte oder Hotelzimmer – von der Netzgemeinde wird alles bewertet. Die Weisheit der Vielen ist aber nicht immer der beste Ratgeber

Nach einem Bandscheibenvorfall konnte sich der anonyme User „kaum rühren vor Schmer­zen“. In einer Münchner Privatklinik wartete Hilfe, schnell und ohne offene Operation, wie in dem Erfahrungsbericht auf der Internetseite klinikbewertungen.de nachzulesen ist. Am Ende vergab der User für die Klinik Bestnoten in allen Kategorien. Doch über dem Eintrag mit dem Titel „Danke für ein schmerzfreies Leben“ steht rot gefettet: „Diese Bewertung geht nicht in die Gesamtbewertung ein.“

Die Redaktion des Onlineportals vermutet hinter dem Jubeleintrag für die „Alpha Klinik“ eine Manipulation durch das Klinikpersonal. Inzwischen hat die Klinik geschlossen, einer der Ärzte steht zum wiederholten Mal wegen Behandlungsfehlern vor Gericht. Andere User, offenbar echte Patienten, berichteten auf dem Bewertungsportal auch von „Pfusch“, „Abzocke“, und einem Chirurgen, der so präzise vorging „wie ein Schlachter“.

Alles wird gemeldet

Im Internet werden heute nicht nur für Flachbildfernseher oder literarische Neuerscheinungen Noten vergeben. Unter regelmäßiger Beobachtung stehen auch Lehrer, Professoren, Rechtsanwälte, Pflegeheime, Hotels, Autovermietungen – die Liste ließe sich fast unbegrenzt fortführen. Die anonyme Cybergesellschaft wirkt wie die Spezies der Borg aus der TV-Serie Star Trek: Jedes Erlebnis mit der Außenwelt wird an das Kollektiv gemeldet, damit die anderen Borgs bei einem erneuten Kontakt gewappnet sind. Dabei steht viel auf dem Spiel.

Im Juni beschäftigte die wuchernde Bewertungskultur sogar den Bundesgerichtshof. Eine Lehrerin aus Nordrhein-Westfalen hatte mit Unterstützung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gegen das soziale Netzwerk spickmich.de prozessiert. Der Bundesgerichtshof entschied, die Community des Portals darf der Lehrerin weiterhin anonym Noten ausstellen, anklicken wie „cool und witzig“ sie ist – oder wie „fachlich kompetent“. Das Recht auf freien Meinungsaustausch erhielt von den Richtern ein höheres Ranking als das Recht der Lehrerin auf „informationelle Selbstbestimmung“. Allerdings, betonte die vorsitzende Richterin, sei das Urteil kein Freifahrtschein für andere Bewertungsportale. Man müsse in jedem Einzelfall die beiden Rechte neu gegeneinander abwägen.

Der Spickmich-Fall löste eine heftige Debatte um die virtuelle Bewertungskultur aus, weil er so plakativ das hierarchiefreie, antiautoritäre Wesen des Web 2.0 ins Bewusstsein rief. Alle dürfen alles bewerten und kommentieren – und jeder muss sich das gefallen lassen. Nur ist die „Weisheit der Vielen“ ein guter Ratgeber, wenn es um die Wahl der richtigen Schule oder des besten Krankenhauses geht? Bewerten im Internet nicht vor allem frustrierte und feige Menschen, die sich nicht trauen, ihrem Gegenüber in der Offline-Welt ihre Unzufriedenheit ins Gesicht zu sagen?

Die Anonymität der Bewertungsportale verspricht eine Aufhebung der Machtverhältnisse, die außerhalb des Netzes gelten. Bei Spickmich etwa wechseln Schüler und Lehrer die Rollen. Pädagogen laufen dagegen Sturm. Sie fühlen sich an einen Online-Pranger gestellt.

Auch viele Patienten fühlen sich Ärzten gegenüber ausgeliefert. Deshalb wechseln sie im Netz gern in die Rolle desjenigen, der die Leistungen des Mediziners beurteilen darf. Zurzeit plant die Krankenkasse AOK ein eigenes Bewertungsportal für ärztliche Leistungen. Aus der Ärzteschaft schlägt der Krankenkasse Wut entgegen, die Angst vor anonymen Rufmord durch die Medizin-Laien scheint groß. Doch die Entwicklung scheint nicht mehr umkehrbar.

Menschliches Grundbedürfnis

Eine Entwicklung, die der Berliner Medientheoretiker Norbert Bolz grundsätzlich positiv bewertet. Er sieht in der Lust am Notengeben eine anthropologische Konstante: „Das Bewerten liegt tief in unserer Natur.“ So flüchtig und belanglos das Meer der vergebenen Sternchen und schnell geschriebenen Beurteilungen wirken mag, für Bolz ist die Bewertungskultur nicht irgendeine Applikation des Web 2.0, sondern schafft einen entscheidenden Mehrwert. „Bei dem Überangebot von Informationen, das charakteristisch für unsere heutige Welt ist, gibt es kein größeres Bedürfnis als das nach Orientierung.“

Genau dies versprechen die Skalen, Rankings, Punkte und Sterne. Sie reduzieren die Komplexität, das unüberschaubare Angebot. Und sie geben den Usern die vermeintliche Gewissheit beurteilen zu können, was wichtig ist, was gut und was schlecht. Diese Bestimmtheit fasziniert. Ein Film mit sieben Sternen muss besser sein als einer mit vier. Oder können tausende Nutzer irren? Unabhängig von der tatsächlichen Aussagekraft der Bewertung sieht Bolz eine „Revolution der Amateure“, die im Netz eine „enorme soziale“ Kontrolle ausüben.

Lange vor Lehrern und Ärzten spürten dabei Unternehmen die Macht der virtuellen Bewertung. Studien zeigen, so gut wie alle Menschen mit Internetzugang nutzen das Netz, um sich vor Kaufentscheidungen zu informieren. Der Kampf um Passagiere, Hotelgäste und Stromkunden spielt sich heute nicht mehr auf Plakatwänden ab, sondern auf Testportalen, Preisvergleichsseiten und in Produktforen. Je schwieriger eine Leistung im Voraus einzuschätzen ist, desto eher sucht der Verbraucher online Orientierung. Wer kann schon wissen, wie lange ein Laptop-Akku hält oder ob ein Hotel inmitten von Bauruinen steht? Eigentlich nur Menschen, die es selbst erlebt haben.

Negative Bewertungen wirken indes weit stärker als positive. Beobachtungen des Surfverhaltens ergaben: Nutzer googeln vor dem Einkauf gezielt nach negativer Kritik, tippen etwa neben der Produktbezeichnung das Wort „unzufrieden“ ins Suchfeld. Die Unternehmen lassen deshalb Mitarbeiter und Agenturen ihr „Web-Image“ beobachten und versuchen möglichst früh herauszufinden, von welchem Forum, von welchem Blogger Gefahr drohen könnte.

Horrorvision der Web-Monitoring-Branche ist der Fall Apple. Der Blog engadget.com soll mitverantwortlich dafür sein, dass der Aktienwert der Firma zeitweilig um vier Milliarden Dollar verlor. Engadget hatte die Falschmeldung verbreitet, Apple müsse den Verkaufsstart seines I-Phones in den USA verschieben.

Noch nie stand die Leistungsgesellschaft und ihr virtuelles Abbild derart unter Beobachtung. Die Netzkontrolle hat dabei die Produkt- und Dienstleistungswelt auch schon gewaltig verändert und zu Verbesserungen vieler Produkte geführt. Wer vor 20 Jahren Ramsch verkaufte, hatte noch keinen virtuellen Ruf zu verlieren, der innerhalb von Sekunden weltweit abrufbar war. Heute wirken millionenfache Empfehlungen von Verbrauchern für Verbraucher glaubwürdiger als die beste Werbekampagne.

Krise der Experten

Die Autorität des „Schwarms“ sorgt aber auch für neue Abhängigkeiten, in die sich der einzelne Verbraucher begibt. Er orientiert sich immer wieder an der punktevergebenden Masse oder am Kommentar des Amateurs. Wissenschaftler und Fachjournalisten verlieren rapide an Einfluss. Ein auf jahrelanger Beschäftigung mit dem Gegenstand gegründetes Urteil ist im Netz erstmal nicht mehr wert als das Sternchen-Ranking eines anonymen Nutzers. Norbert Bolz spricht gar von einer „Krise der Experten“. Aber ist der Schwarm unfehlbar?

Mit der Bedeutung des Web-Images steigt wie im Fall von klinikbewertungen.de die Versuchung zu manipulieren. Manche Bewertungsportale für Versicherungen sollen etwa komplett durch die Anbieter selbst finanziert werden. Auch eine der größten Rezensionssammlungen der Welt, das Verkaufsportal Amazon, wird immer wieder von Werbern infiziert, zugunsten der eigenen Produkte oder zum Schaden der Konkurrenz.

Die Manipulation ist die Kehrseite der viel gepriesenen Internetöffentlichkeit, die alles transparenter und demokratischer machen soll. Die Nichtregierungsorganisation Lobby-Control warnt vor „bezahlter, verdeckter Meinungsmache“ im Netz. Lobbyisten und PR-Agenturen agierten immer geschickter. Ende Mai deckte Lobby-Control auf, dass die Deutsche Bahn Agenturen beauftragt hatte, ihr Image im Netz durch gekaufte Blogbeiträge und Kommentare aufzupolieren. So wurden etwa 2.400 Beiträge in Bahn-Foren von Spiegel Online gepostet, um Meinungen zu Lokführerstreik und Börsengang zu beeinflussen. Auch der Bauernverband versuchte verdeckt in Foren für die eigene Position zu werben. Die Debatte um verheimlichte Interessen im Netz hat gerade erst begonnen.

Befürworter der digitalen Bewertungskultur setzen aber auf die Selbstreinigungskräfte. „Je wichtiger ein Thema ist, desto genauer und qualitativ hochwertiger sind die Einträge“, sagt Norbert Bolz. Bei wirklich breitem Interesse hätten auch falsche Bewertungen daher kaum Chancen. Am Ende kontrolliert die Netzgemeinschaft also nicht nur die analoge Welt, sondern auch sich selbst.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Alexander Wragge

Bloggt für freitag.de von der Kapitalismus-Konferenz in Berlin

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