Begegnung der eiskalten Art

KINDERBÜCHER Ein aberwitziger Kinderroman von Bjarne Reuter für alle, denen Harry Potter zu brav ist

Der tote alte Mann hatte den Mund offen und schien mit dem einen Auge zu zwinkern. Sein Sarg war schwarz, mit Seide ausgeschlagen und viel zu groß für den kleinen, mageren Leichnam. Die Schultern des Mannes saßen dicht unter seinen riesigen Ohren und durch sein linkes Auge schien er alle und alles in der großen, äußerst elegant eingerichteten Leichenhalle zu überwachen."

Was für ein Einstieg in ein Kinderbuch! Da musste die Rezensentin doch kurz schlucken und sich durch einen Blick aufs Cover vergewissern, dass sie nicht versehentlich einen Raymond-Chandler-Roman gegriffen hatte. Aber nein: was hier so morbide beginnt, ist eindeutig Ein Fakir für alle Fälle, Bjarne Reuters neuester Streich für alle, denen Harry Potter zu brav ist.

Bestattungsunternehmer Moony ist in seinem Element, als er den Zwillingen Kamma und Tom Wilkins, beide 13 Jahre, anhand der zwinkernden Leiche seine kosmetischen Künste demonstriert. Schließlich sei der Mann zuerst vom Dach gefallen und anschließend von einem Bus überrollt worden. Glücklicherweise handelt es sich nicht um das Dach des Hauses, das Moony in seiner zweiten Eigenschaft als Immobilienmakler der Mutter der Geschwister andrehen will. Dabei läge diese Vermutung nahe. Und die Leiche wird für Kamma und Tom nicht die einzige Begegnung der eiskalten Art bleiben.

Trotz vehementer Proteste der Sprösslinge erwirbt Mutter Wilkins das "Elchsauge", jenes von Moony angepriesene Eigenheim, in dem sich Dracula recht wohl gefühlt haben würde. Und siehe da: bereits am Tage des Einzugs steht das Ehepaar Lambert vor der Tür. Die Lamberts wollen der kleinen Familie das Haus für viel Geld wieder abkaufen. Kamma wittert Unheil und fördert tatsächlich etwas zu Tage: 12 Jahre haben die Lamberts für einen Juwelenraub gesessen. Das Prachtstück des Coups, der Diamant Koo-Loon, ist immer noch verschwunden.

Für Tom und Kamma steht fest, dass der Klunker im "Elchsauge" versteckt ist. Aber alles, was die Schatzgräber ans Tageslicht bringen, ist ein alter verstaubter Kugelschreiber, in dem in einer klaren Flüssigkeit ein hutzeliges Männchen schwimmt. Und dann, fatal!, dann schraubt Kamma die Kappe des Kulis auf. Heraus kommt Albin Eduardo Lombardo, auch bekannt als der Fakir von Bilbao.

Lombardo ist ein Albtraum: Augen in tiefen Höhlen, braune, faulige Zahnstümpfe, fahlgelbe Haut und ein Geruch wie die unterste Schicht eines Komposthaufens. Aber so lieb! Ganz anders als Aladins Geist aus der Flasche ist dieser Fakir aus dem Kuli wirklich herzensgut und steht den Geschwistern mit Rat und Tat und Mundgeruch zur Seite. Dabei kommt es zu dem einen oder anderen Missgeschick. Zu guter Letzt sitzen Kamma und Tom dank des Fakirs Hilfe auf vier Leichen, von denen weder die Mutter noch die Polizei etwas erfahren sollten. Aber wozu sind alte Freunde da? Bestattungsunternehmer Moony hilft gerne. Schließlich hat er ein Auge auf Mutter Wilkins geworfen.

Der dänische Erfolgsautor Bjarne Reuter, in diesem Jahr mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, hat einen besonderen Roman für Kinder geschrieben - nie wurde der Tod so irr- und aberwitzig auf die Schippe genommen wie hier. Das Tabuthema schlechthin - sonst immer mit den Attributen "einfühlsam" und "behutsam" bedacht - wird bei Reuter lustvoll angepackt, zerknautscht, fröhlich in die Luft geworfen, kunstvoll aufgefangen (oder schelmisch fallen gelassen). Ganz offen klaut der Autor bei Krimi-Komödien-Klassikern. Motive, die aus der Unterhaltungskultur der Erwachsenen nicht mehr wegzudenken sind, passen mit einem Mal auch fürs Kinderalter: das Kicher-Grusel-Gemisch à la Adams-Family, die Leiche, die einfach nicht begraben bleiben will (Immer Ärger mit Harry) oder sich wie bei Arsen und Spitzenhäubchen im Keller stetig vermehrt. Dabei funkelt über allem der Neon-Schriftzug: "Nur nichts ernst nehmen!!"

Ein Fakir für alle Fälle ist eine groteske und fantasievolle Tour de force mit gepfefferten Dialogen und einer Bildsprache, die der Ästhetik des Kinos ähnelt. Geübte Leserinnen und Leser ab zehn Jahren werden ihr mörderisches Vergnügen haben!

Bjarne Reuter: Ein Fakir für alle Fälle, aus dem Dänischen von Gabriele Haefs, Verlag Sauerländer, Frankfurt 2000, 151 S., 26,80 DM

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