Verzweifelte Suche nach Liebe

JUGENDBÜCHER Robert Cormiers Ausnahmeroman "Zärtlichkeit"

Die 16jährige Lori ist auf der Suche nach einem ganz besonderen Empfinden: nach Zärtlichkeit. Sex, Begierde, Leidenschaft, Eifersucht und Hass, all das hat sie in ihrem jungen Leben schon kennen gelernt. Ausgestattet mit dem vollen, üppigen Körper einer erwachsenen Frau wird sie von jedem Mann als Lustobjekt betrachtet, und oft genug nutzt sie das raffiniert für ihre Zwecke aus. Doch im Grunde ihres Herzens ist sie unschuldig geblieben, naiv, voller Staunen über die Wunder des Lebens.

An jenem Tag, als ihre Obsession für Eric Poole beginnt, glaubt sie sich ihrem Ziel atemberaubend nahe, denn der gutaussehende junge Mann bricht mit seinem verträumten und sanften Lächeln Mädchenherzen. Und führt mit seinem Charme die Polizei, Justizia und die öffentliche Meinung an der Nase herum. Denn was keiner weiß und nur der alternde Polizist Lieutenant Proctor ahnt: Eric ist nicht nur ein Mörder, der seine Mutter und seinen Stiefvater kaltblütig umgebracht hat - Eric Poole ist ein Triebtäter, ein Serienmörder, der drei jungen Mädchen mehr als nur das Herz gebrochen hat .

"So ein lieber Junge" - diesen entzückten Ausruf hat Eric sein Leben lang zu hören bekommen, und einstmals hat dieses Lob seine Mutter mit Stolz erfüllt. Eine Mutter, die ihren Sohn liebte, ihn liebkoste und in ihm das Besondere, Wunderbare sah. Dann taucht ein anderer Mann auf, Harvey, der die innige Zweisamkeit zerschlägt. Und in Eric wächst eine Idee, wie er sich für diese Zerstörung seiner Geborgenheit rächen kann.

Eric ist 15, als er seine Mutter und Harvey erstickt. Er gesteht die Tat, ohne zu zögern. Und als er die Narben auf seinen Armen zeigt, die von ausgedrückten Zigaretten stammen, denkt niemand mehr daran, diesen wunderschönen Knaben lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Die selbst beigebrachten Wunden sichern Eric einen Prozess nach Jugendstrafrecht. Heute, mit 18 Jahren, ist er frei. Ohne Aufsicht, mit Geld versorgt durch die Versicherungen seiner Mutter: " ... frei. Die Freiheit, seiner Bestimmung zu folgen. Jagd auf sie alle zu machen."

Lori ist Eric bereits früher einmal begegnet: Der Zufall will es, dass sie ihn an ihrem 12. Geburtstag trifft und beobachtet, wie er mit einem schwarzhaarigen Mädchen in den Wald geht. Sein drittes Opfer. Lori schöpft keinen Verdacht, als der Junge alleine wieder aus dem Wald kommt. Eric spricht sie an, und sie schwärmt ihm vor, wie viele tolle Geschenke sie bekommen hat. In Wahrheit hat ihre versoffene Mutter den Geburtstag der Tochter vergessen. Eric spürt die Lüge und tröstet das Kind. "Mit sanfter, zärtlicher Stimme." In diesem Augenblick ist es um Lori geschehen: Sie erkennt eine verwandte Seele. Als Eric aus der Haft entlassen wird und Lori sein Gesicht im Fernsehen wiedersieht, schließt sich der Kreis: Lori will diesen Traummann treffen, dieses Lächeln sehen, diese Stimme hören, die sie einst die ersehnte Zärtlichkeit hat spüren lassen.

Eric dagegen hat nur eins im Sinn: eine schwarzhaarige Schönheit, die "Señorita", die er kurz vor seiner Entlassung im Gefängnis getroffen hat. Seine Leidenschaft, die er drei Jahre lang unterdrücken musste, bricht mit fieberartiger Gewalt hervor: Er muss dieses Mädchen finden, ihr Haar berühren, ihre Haut streicheln, seine Hände an ihren Hals legen ... Da bricht Lori mit aller Macht in sein Leben, wirft sich ihm an den Hals und zu Füßen, überrumpelt ihn mit ihrem lustvollen Körper, ihrem liebevollen und herzlichen Wesen, ihrer strahlenden Unschuld. Und dann erinnert Eric sich an das 12jährige Kind von einst - und erkennt gleichzeitig, dass sie zuviel weiß. Lori darf nicht am Leben bleiben.

Es ist wahr: Es gibt Bücher, die ihren LeserInnen ob ihrer schonungslosen Darstellung des Extremen und Unvorstellbaren das Äußerste abverlangen. Robert Cormiers Zärtlichkeit gehört dazu. Sein jugendlicher Serienmörder Eric und die Streunerin Lori sind Charaktere, deren Motivation unbegreiflich erscheint und die sprachlos machen. Der Leser muss selbst diese Distanz überwinden, ihnen nahe kommen und sich sein eigenes Bild, seine eigene Moral erarbeiten: Cormier liefert nur den Entwurf und enthält sich jeglicher Bewertung. Selten hat mich ein Roman so nachhaltig beschäftigt wie dieses subtile Psychogramm zweier verlorener Seelen, deren verzweifelte Jagd nach Liebe im Abgrund endet. Cormier sucht - und findet immer! - die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele.

Zärtlichkeit gehört einer neuen Kategorie von anspruchsvoller Literatur für junge Leser der Altersgruppe ab 16 an. Das traditionelle Jugendbuch ist im Verschwinden begriffen, ganz einfach, weil sich das Leseverhalten des jugendlichen Publikums geändert hat: Kinder lesen verstärkt Jugendbücher, und Jugendliche greifen zur Literatur für Erwachsene. Die Inhalte für diese neue "junge" Literatur sind da, das beweist unter anderem dieses Buch, doch um ihr eine Chance zu geben, braucht es zum einen einen entsprechenden Platz im Buchladen und zum anderen den Mut der Verleger, diese Bücher entsprechend ihrer Zielgruppe auszustatten. Cormiers Zärtlichkeit hat beim Kinderbuch nichts zu suchen und wird doch in der Belletristik ob seiner traditionellen Jugendbuch-Aufmachung nicht zu finden sein. Was der Sauerländer Verlag hier fatal-fälschlicherweise unter dem Label "Jugendbuch ab 12" publizierte, ist ein Stück Literatur vom Feinsten. Verstörend - ganz sicher; nur geübten und seelisch gefestigten LeserInnen ab 16 in die Hand zu geben - keine Frage. Gleichzeitig aber ein Werk, das inhaltlich und qualitativ seinesgleichen sucht.

Robert Cormier: Zärtlichkeit, aus dem amerikanischen Englisch v. Cornelia Krutz-Arnold, Verlag Sauerländer, Frankfurt am Main 2000, 222 S., DM 29,95 (ab 16)

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