Weit weg, ganz nah

Film Das Auftauchen einer alten Liebe stellt in „Was gewesen wäre“ die neue Beziehung in Frage
Ausgabe 47/2019

Vor Kurzem noch lag Paul unter Astrids Messer, buchstäblich, hat die Chirurgin doch dem Herzkranken das Leben gerettet. Und dann haben sie sich, passend, ineinander verliebt. Ein Vierteljahr ist das nun her, da kann man schon allmählich darüber nachdenken, ob es sich womöglich um etwas Ernstes handelt. Ein paar Tage abseits der Routinen sollen die Gelegenheit dazu bieten. Also hat der Westler Paul (Ronald Zehrfeld) die in der DDR sozialisierte Astrid (Christiane Paul) nach Budapest ins noble Hotel Gellért eingeladen. Denn dort – in Budapest, nicht im noblen Hotel – hat Astrid einst einen prägenden Urlaub verbracht; mit ihrer besten Freundin, ihrer ersten großen Liebe und dessen aus Hamburg stammendem Halbbruder. Paul weiß zwar von der damaligen Reise, nichts aber von der damaligen Liebe – das wird sich vor Ort nun rasch ändern.

Mit Was gewesen wäre legt Florian Koerner von Gustorf, der langjährige Produzent der Filme Christian Petzolds, sein Regiedebüt vor. Er verfilmt den 2014 erschienenen gleichnamigen Roman von Gregor Sander, der auch das Drehbuch schrieb, und er bringt in knappen eineinhalb Stunden eine erstaunliche Menge komplexes und kompliziertes, erwachsenes Gefühlsleben unter. Denn die Dinge des Herzens bestimmen die Geschichte, die in diesem Film erzählt wird. Oder ist die bestimmende Kraft vielmehr doch die Politik, die diesen Herzensangelegenheiten den Rahmen vorgibt beziehungsweise aufzwingt? Wie organisch fließt hier einmal mehr beides ineinander.

Am Abend im Speisesaal nämlich erkennt Astrid in einem der Gäste ihre große erste Liebe von damals, Julius, wieder. Und bald schon sehen sich die romantischen Gefühle der Gegenwart von den leidenschaftlichen der Vergangenheit angegriffen. Während in organisch in die Gegenwartserzählung eingeflochtenen Rückblenden die vergangenen Geschehnisse vermittels prägnanter Handlungsabschnitte rekapituliert werden.

Massig und verletzlich

Julius’ und Astrids Wege trennten sich seinerzeit, vor über 30 Jahren, unter eher diffusen Umständen. Unbestimmt und unklar wie auch das Verhältnis der beiden zueinander war: Die sachliche und eher zurückhaltende Astrid war schwer verliebt in den ungezügelten Julius, Sohn einer Künstlerin und Dissidentin, der nicht bereit war, sich fest zu binden. Schließlich kollidierten Julius’ Träume von der Freiheit im Westen mit Astrids pragmatischer Lebens- und Berufsplanung auf für beide ziemlich schmerzhafte Weise. Dergestalt, dass keiner der beiden es wagte, nach Mauerfall den anderen zu suchen. Da gäbe es also so einiges zu ordnen, nach Möglichkeit zu bereinigen oder womöglich gar wieder aufzugreifen.

Während sich also Astrid nach anfänglichem Zögern aufrafft zu längst überfälligen Aufräumarbeiten, in die sie Paul miteinbezieht, sieht dieser sich zunehmend verunsichert. Denn natürlich hat er es mit einem Konkurrenten zu tun. Doch kann der, ein Phantom von früher, ihm wirklich gefährlich werden? Die noch junge Beziehung der beiden Endvierziger mit gescheiterten Ehen im Schlepptau sowie Kindern, die sie zu selten sehen, gerät unter Druck, noch bevor sie recht gefestigt ist. Und was folgt, trägt sich zu in einem Spannungsfeld zwischen der Bereitschaft zum Risiko und jener, vorauseilend das Weite zu suchen.

Mit Christiane Paul in der Rolle der Astrid und Ronald Zehrfeld in der des Paul stehen von Gustorf zwei hochkarätige Kräfte zur Seite, die sich noch nie mit einfachen Lösungen und oberflächlichen Darstellungen zufriedengegeben haben. Dementsprechend lohnend ist es, den beiden dabei zuzusehen, wie sie im Zusammenspiel realistisch nüchtern bleiben und souverän den möglichen melodramatischen Untiefen des Plots ausweichen. Dabei werden die Ängste der Figuren in ihren Körpern sichtbar: Christiane Paul spielt Astrid mit einem leichten Dauervibrieren, das ihre emotionale Anspannung deutlich macht, ihr Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen dem neuen und dem alten Glück. Und Zehrfeld bringt in Paul eine Verletzlichkeit und Angreifbarkeit zum Ausdruck, die nur scheinbar im Widerspruch steht zu seiner massigen Statur. Reinhold Vorschneiders immer aufmerksame, aber nie aufdringliche Kamera fängt die sanften Nuancen eines unzweifelhaft dramatischen Geschehens ein, das von Gustorf wiederum so empathisch wie souverän in Szene setzt. Mit einer nie nachlassenden Aufmerksamkeit für die Details, die er mit dem großen Ganzen mit leichter Hand zu verknüpfen weiß.

Der letzte Akt bringt die Begegnung mit einem befreundeten ungarischen Künstlerpaar; man sitzt beisammen und redet über Viktor Orbáns Politik, über die Macht der Fidesz-Partei und darüber, ob es nicht besser wäre, das Land zu verlassen. Geschichte wiederholt sich nicht als Farce, Geschichte wiederholt sich, weil der Mensch nicht aus ihr lernt. Das eben ist die Farce. So wird denn im Zuge eines Ausflugs neuerlich eine abschottende Anlage besichtigt – ein mit stummer Billigung der EU errichteter Schutzwall an der Grenze zu Serbien; nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen dessen Opfer. Ein Zaun, der von der Kumpanei neoliberaler Demokratien mit pseudodemokratischen Diktaturen gruseliges Zeugnis ablegt.

Und Paul macht eine Erfahrung, die ihm Astrid näherbringt. Und Astrid erkennt Pauls Bemühen, sie besser zu verstehen. Und so kann es denn nun eigentlich losgehen.

Info

Was gewesen wäre Florian Koerner von Gustorf Deutschland 2019, 89 Minuten

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