Der Staat Israel wird kein Picknick werden“, sagte Ben Gurion 1949. Der Gründungsvater, dessen Sorgen gegen Ende seines Lebens wuchsen, war vorausschauender, als ihm lieb gewesen wäre. Bis heute ist das Land politisch, kulturell und sozial angespannt, bedroht von „Kriegen wie die Biennale – alle zwei Jahre“, so der israelische Schriftsteller Etgar Keret.
Israel ist eine der Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts, ein Land, in dem hypermoderne, kreative, traditionelle, reaktionäre und fast archaische Lebensweisen aufeinanderstoßen. Das gentrifizierte Hightech-Zentrum Tel Avivs und der ultraorthodox bestimmte alte Kern Jerusalems, der an ein osteuropäisches Schtetl erinnert, sind wie zwei Welten. Spannungsfelder koexistieren, anstrengend, verwirrend und faszinierend. Die inneren Widersprüche finden ihre Entsprechungen in der Außenbetrachtung: Für Juden sowie Nicht-Juden ist Israel eine riesige Projektionsfläche, ja, fast ein Fetisch – verherrlicht, dämonisiert, behütet, bedroht, begehrt und verstoßen.
Viele glauben, Israel sei infolge des Holocaust entstanden. In Wahrheit hatten die frühen Zionisten spätestens seit der Balfour-Deklaration von 1917 stetig dafür gesorgt, alle nötigen Grundlagen für einen Staat zu schaffen. Die Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 war das Ergebnis einer gigantischen Leistung und die Erfüllung eines Traums. Freilich waren Antisemitismus und Judenverfolgung Auslöser und Triebkraft für den Zionismus. „Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu“, schrieb 1896 dessen Begründer Theodor Herzl. Die Nazis trieben es auf die Spitze, indem sie Deutsche und andere Europäer durch ihren Hass zwangen, sich als Juden und nicht mehr als Bürger ihres Landes zu definieren. Die Vernichtung der europäischen Juden war der letzte und schrecklichste Beweis für die absolute Notwendigkeit Israels – eines starken Staates, der allen Juden in der Welt auf immer Zuflucht und Sicherheit bieten würde. Paradoxerweise spielte das Los der Überlebenden in den Anfangsjahren Israels kaum eine Rolle: Ihre leidvollen Geschichten waren zu belastend, sie passten nicht in das zionistische Menschenbild des neuen, wehr- und heldenhaften Juden.
Lange kämpften die Israelis ums Überleben, bedroht von realen Gefahren, getrieben von Ängsten und Traumata aus der Vergangenheit. Herzls Hoffnung, Israel werde einst ein säkulares, normales Land werden, zerschlug sich spätestens 1967 mit der Besetzung der palästinensischen Gebiete. „Ben Gurion wusste schon 1919, dass der arabisch-israelische Konflikt zwar verwaltet, nicht aber gelöst werden kann. Er wollte deshalb die israelische Kontrolle der von Palästinensern stark bevölkerten Gebiete vermeiden“, sagt der Historiker Tom Segev, dessen beeindruckende Ben-Gurion-Biografie gerade erschienen ist.
Der richtige Zeitpunkt, die beherrschte Bevölkerung – und so auch sich selbst – zu befreien, wurde verpasst; die Besatzung wurde zum integralen (wenngleich abgespaltenen) Bestandteil des Alltags, ja fast zu einem Teil der israelischen Identität. Als 1989 die Palästinenser mit der ersten Intifada aufbegehrten, entstand ein Bruch: Israelis lebten nun auch in den eigenen Staatsgrenzen nicht mehr sicher, zudem standen sie wegen ihres Vorgehens gegen palästinensische Zivilisten weltweit in der Kritik. Der Osloer Friedensprozess Anfang der 1990er Jahre kam als riesige Chance: Plötzlich erschien eine kooperative Nachbarschaft von Israelis und Palästinensern realistisch. Ein Paradigmenwechsel stand an. Der Feind entwickelte sich zum Partner.
Das bot den Raum, sich endlich den inneren Konflikten zu widmen und die Demokratie durch einen gesellschaftlichen Dialog voranzubringen: Zionisten und Nicht-Zionisten lagen lautstark miteinander im Clinch. Juden aus muslimischen Ländern forderten die althergebrachte Dominanz der europäischen Juden heraus; palästinensische Israelis (20 Prozent der Gesamtbevölkerung) verlangten selbstbewusst nach Gleichberechtigung; russische Israelis verschafften sich mehr Einfluss, während äthiopische Neueinwanderer noch mit der Moderne und ihrer Stellung in der Gesellschaft beschäftigt waren. Politische Fragmentierung und Eigeninteressen standen nun dem vom Zionismus gepredigten Gemeinwohl und der nationalen Einheit entgegen. Das Kibbuz-Leben war nahezu am Ende.
In dieser Umbruchzeit griffen die Nationalreligiösen, Ultraorthodoxen und Rechten nach der Macht, derweil die Siedler ihre Aktivitäten in den palästinensischen Gebieten, von den Regierungen fast ungehindert, ja geradezu ermutigt, intensivierten. Premier Jitzchak Rabin wollte die Trennung von den Palästinensern. Diese verloren deshalb ihre lebensnotwendigen Arbeitsplätze in Israel, ersetzt von Gastarbeitern. Aber auch Rabin gebot den Siedlern keinen Einhalt, obwohl er sie als „das Krebsgeschwür im Körper der israelischen Demokratie“ bezeichnete. Palästinensische Gruppen nutzten den sichtlich scheiternden politischen Prozess, um ihn ihrerseits mit Anschlägen zu torpedieren. Rabin blieb stur, sein Credo lautete: „Bekämpfe den Terror so, als ob es keinen Friedensprozess gäbe, führe den Friedensprozess, als ob es keinen Terror gäbe.“
1995 wurde er selbst Opfer des Terrors, jedoch nicht des palästinensischen, sondern des israelischen – ermordet von einem Studenten. Der Täter war ein jüdischer Siedler und verlängerter Arm eines gesellschaftlichen Spektrums, das den Machtschwund der historischen Arbeiterbewegung mit messianischen und chauvinistischen Weltanschauungen erwiderte. An der Hetzkampagne gegen Rabin hatte sich auch Benjamin Netanjahu beteiligt. Unterstützt von Politik, Medien und Justiz wuchs die Siedlerbewegung „zur einflussreichsten politischen und kulturellen Kraft in der Geschichte des israelischen Staates“ heran, konstatierten die Historikerin Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar 2004.
Mit Rabin starb auch die Aussicht auf Frieden. Alles stand nun unter dem Diktum militärischer Sicherheit. Likud-Chef Ariel Scharon setzte seinen Masterplan für die Siedlungspolitik fort. Unter ihm entstanden die ersten Abschnitte der Sperranlage, eines inzwischen rund 760 Kilometer langen Monstrums, das tief in palästinensisches Gebiet schneidet und jüdische Siedlungen in der Westbank umschließt. Scharon zog 2005 die Siedler aus dem Gazastreifen ab, aber die Landgewinnung in der Westbank ging weiter.
Seit Netanjahus Machtübernahme 2009 sitzen Nationalreligiöse und Ultraorthodoxe einflussreich in der Knesset. Das Parteiensystem ist insgesamt nach rechts gerückt, die Linke und der winzige Rest der Friedensbewegung sind stark marginalisiert. Jüdische Siedlungen, inklusive Universität und touristischer Angebote, sind heute so normal geworden, dass die Mehrheit der Israelis sie zu Israel zählt; die meisten jungen Leute wissen nicht einmal mehr, wo die Grüne Linie, die Grenze von 1967, verläuft.
Der äußere Feind bleibt der Kitt, der Israel zusammenhält. Netanjahu spielt meisterhaft und skrupellos auf dieser Klaviatur. Die sozialen Missstände, gegen die 2011 bis zu 350.000 Demonstranten auf die Straße gingen, sind unterdessen nicht beseitigt. Viele junge Israelis verlassen enttäuscht das Land, amerikanische Juden wenden sich ab. Die Diskussion „Who is a Jew?“ über das Wesen der jüdischen Identität ist steckengeblieben. Eine Verfassung hat Israel noch immer nicht, vor allem aber hat seine politische Elite keinerlei Antwort darauf, wie der Staat der Juden zugleich demokratisch sein und alle seine Bürger, auch die nicht-jüdischen, gleichberechtigt behandeln kann. Ein Ende der Besatzung und der Siedlungspolitik ist nicht beabsichtigt. „Die meisten [Israelis] verschanzen sich hinter dem Joghurt am Morgen und dem Steak am Mittag“, beschrieb Avraham Schalom, ehemaliger Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, die Verdrängungsmechanismen. Dabei wäre gerade die Auflösung der unheilvollen Symbiose mit den Palästinensern der eigentliche Garant für eine gesicherte Zukunft Israels.
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