„Annexion ist Apartheid“ oder „Make peace great again“, so die Slogans auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv. Trotz Covid-19-Einschränkungen protestieren am Wochenende mehr als 6.000 Israelis gegen die Annexionspläne ihrer Regierung, darunter viele arabische Bürger. Dazu aufgerufen hatten die linke Partei Meretz und die kommunistische Fraktion Hadash, Teil der Wahlallianz Vereinte Liste, die bei der Parlamentswahl am 2. März auf 15 der 120 Knesset-Mandate kam.
In allen drei Wahlkämpfen seit April 2019 hat Benjamin Netanjahu seinen Anhängern versprochen, Teile der palästinensischen Westbank zu annektieren und Israel einzuverleiben. Das wäre zwar ein Bruch internationalen Rechts, doch sieht er sich in seinem Vorhaben durch die US-Administration bestärkt. Schließlich gab es auch im Mai 2018 kaum internationalen Protest, als die aus Tel Aviv verlegte US-Botschaft in Jerusalem eröffnet wurde. Gleiches traf zu, als die Regierung Trump im März 2019 die 1981 erfolgte Annexion der syrischen Golanhöhen durch Israel anerkannte (siehe Glossar). Auch jetzt muss Netanjahu nicht mit internationalen Sanktionen, weder der USA noch der EU, rechnen.
Im Januar hat Donald Trump seinen lange erwarteten „Jahrhundertdeal“ zur Befriedung der Region vorgelegt, einen Plan, der gänzlich ohne Beteiligung der Palästinenser zustande kam. Deren Autonomiebehörde hält ihn nicht für verhandlungswürdig, weil ein palästinensischer Staat darin nur noch als kümmerliches Flickwerk einzelner Gebiete vorgesehen ist.
Nun, da es nach über einem Jahr endlich eine neue Regierung gibt, will Netanjahu am 1. Juli Tatsachen schaffen. Wer weiß schon, ob Trump die US-Präsidentenwahl am 3. November übersteht. „Netanjahu interessiert nichts weiter, als von seinem Gerichtsverfahren abzulenken, obwohl er genau weiß, dass eine Annexion für uns alle gefährliche Konsequenzen hätte“, schimpft Zehava Galon. Die Ex-Vorsitzende von Meretz, die an der Demonstration in Tel Aviv teilnimmt, freut sich über wachsenden Widerstand. Zwei Tage zuvor hat sie an einer von Meretz organisierten Tour in die Jordansenke teilgenommen, die Netanjahu mit den größten jüdischen Siedlungen um Jerusalem herum annektieren will. „Es wirkt, mit eigenen Augen zu sehen, wie irrwitzig das Vorhaben unserer Regierung ist. Mit der Annexion würden palästinensische Dörfer zu Bantustans ( = Homelands, d. R.)“, so Galon, die den Thinktank Zulat für Gleichberechtigung und Menschenrechte gegründet hat. Ja, mittlerweile spreche auch sie von Apartheid, auf nichts anderes laufe es hinaus, wenn die Regierung Ernst mache. Sie findet, dass Benny Gantz, Chef der Koalitionspartei Kachol Lavan und alternierender Ministerpräsident, zum Komplizen werde. Er habe zugestimmt, den Annexionsplan dem Kabinett und der Knesset vorzulegen, der dort wohl eine klare Mehrheit finde. Laut Umfragen ist über die Hälfte der Bevölkerung für diesen Schritt. Die einflussreiche Lobby der Siedler drängt schon lange darauf. Freilich sind nicht alle Siedler mit dem US-Plan einverstanden. Sie finden ihren Wunsch nach einem Großisrael nicht ausreichend berücksichtigt.
Annexion
Im Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 erobert und im Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 gegen die syrische Armee gehalten, hat Israel das strategisch wichtige Felsplateau oberhalb des Sees Genezareth 1981 annektiert. International wurde das nie anerkannt, am wenigsten von den Vereinten Nationen. Der UN-Sicherheitsrat hatte mit der 1967 einstimmig verabschiedeten Resolution 242 wie mit der Resolution 338 von 1973 eine bedingungslose und vollständige Rückgabe der von Israel besetzten ägyptischen, syrischen und palästinensischen Territorien gefordert. Alles andere sei völkerrechtswidrig, hieß es.
Hillel Schenker war auf der gleichen Tour wie Zehava Galon. Der israelische Mitherausgeber des Palestine-Israel Journal, einem der letzten Kooperationsprojekte von Palästinensern und Israelis, kam das erste Mal seit Ende seiner Reservistenzeit 1990 wieder in die Jordansenke. „Es war beeindruckend, die friedliche Stimmung zu erleben. So ließ sich noch eindringlicher begreifen, welchen Bruch des gut funktionierenden Friedensabkommens mit Jordanien von 1994 die Annexion bedeuten würde.“ Schenker befürchtet starke Unruhen, die Region könne destabilisiert werden. Der Mitbegründer der Friedensbewegung Peace Now betont, dass im Jordangraben nur 4.000 Siedler leben, die größtenteils gemäßigt seien. Etwa vier Fünftel davon würden gegen Entschädigung wieder nach Israel ziehen. „Es geht nicht um Menschen oder um Land. Sogar viele Sicherheitsexperten halten nichts davon, hier zu annektieren. Es geht allein darum, eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen.“ Netanjahu habe seinem Anhang bereits gesagt, dass Palästinenser in den annektierten Gebieten keine israelische Staatsbürgerschaft bekämen. Auch für Hillel Schenker wäre das eindeutig: Apartheid. Der Jahrhundertraub („Steal of the Century“), lautet der Titel der neuen Ausgabe des Palestine-Israel Journal. Mitherausgeber Ziad Abu Zayyad, einst Minister unter Yassir Arafat, hält nichts von Trumps Plan: „Es heißt darin, wir sollten mindestens vier Jahre direkt mit den Israelis über einen palästinensischen Staat verhandeln und Bedingungen erfüllen, die wir nicht alle kontrollieren können. Es liegt also in den Händen Israels, ob es einen palästinensischen Staat, so zerpflückt er auch sein möge, überhaupt je geben wird“, so der Rechtsanwalt und Publizist, der sein Büro in der Altstadt von Ostjerusalem wegen Covid-19 lange nicht gesehen hat. Er lebt in Al Eizariya, einem der Außenbezirke Jerusalems, die Trump gern als palästinensische Hauptstadt sähe. Abu Zayyad weiß, Veränderungen zulasten der Palästinenser sind von israelischen Regierungen nie zurückgenommen worden. Er hofft auf internationalen Druck. Sonst drohe Chaos, weil sich womöglich die Palästinensische Autonomiebehörde auflöst und eine dritte Intifada beginnt.
Ofer Zalzberg, langjähriger Analyst der International Crisis Group, sieht den Trump-Plan nicht so kritisch wie andere. Der berücksichtige durchaus Schwachpunkte vorheriger Muster für eine Zwei-Staaten-Lösung und beziehe die Bedürfnisse der israelischen Rechten mit ein. „Wäre die US-Administration weniger einseitig und aggressiv vorgegangen, hätte sich mancher mit diesen Elementen vielleicht mehr beschäftigt“, meint der Israeli. Benny Gantz’ Partei Kachol Lavan halte Netanjahus Vorhaben für überzogen, während es für viele Siedler nicht weit genug gehe, weshalb es derzeit noch keinen nationalen Konsens gebe. Das Weiße Haus werde einer Annexion kein grünes Licht geben, solange Trump befürchten müsse, dass Gabi Ashkenazi, der Außenminister von Kachol Lavan, und Verteidigungsminister Benny Gantz ihn öffentlich bezichtigen könnten, Israels Sicherheit aufs Spiel zu setzen, glaubt Zalzberg. Der Experte für Konfliktlösungen hält einen Zusammenbruch der regionalen Stabilität für möglich und die Friedensabkommen mit Jordanien und Ägypten für gefährdet. Diese Verständigung mit zwei der arabischen Nachbarn Israels hatte 1979 begonnen, als sich der damalige Premier Menachem Begin und der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat darauf einigten, den seit 1948 bestehenden Kriegszustand zu beenden. Im 1994 geschlossenen Vertrag zwischen Tel Aviv und Amman gab es einen Passus, mit dem der Fluss Jordan zur Grenze erklärt wurde, allerdings nicht für Gebiete, die einmal zu einem palästinensischen Staat gehören könnten. Das heißt, die jetzigen Annexionsabsichten tangieren dieses Abkommen unmittelbar.
Anerkennung
Am 25. März 2019 unterzeichnet US-Präsident Trump während eines Besuches von Premier Netanjahu im Weißen Haus eine „Proklamation“, mit der die israelische Annexion der Golanhöhen durch die USA offiziell anerkannt wird. Dieser Akt bricht mit der Rechtsauffassung, wie sie bis dahin alle US-Regierungen seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 vertreten haben. Netanjahu, der seinerzeit mitten im Wahlkampf steht, spricht von einem „historischen Tag“. „Israel hatte nie einen besseren Freund als Sie“, sagt er zu Trump. UN-Generalsekretär Guterres erklärt: Die Annexion bleibe für internationales Recht wirkungslos.
„Es ist wichtig, dass die EU die Annexion klar als einen Bruch internationalen Rechts bezeichnet. Heiko Maas ist als deutscher Außenminister gut beraten, sich bei seinem jetzigen Besuch für Palästinenser und Israelis gleichermaßen kooperativ zu zeigen“, so Zalzberg. Er plädiert dafür, dass die PLO selbst einen Gegenplan für Frieden vorlegen sollte, um das diplomatische Vakuum zu füllen, das die geplante Annexion als Option erst möglich gemacht habe. Das könne später hilfreich sein angesichts einer offenen US-Wahl wie einer rotierenden israelischen Ministerpräsidentschaft.
Selbst aktiv werden
Auch die Ostjerusalemerin Areej Daibes wünscht sich von der Autonomiebehörde kreative Ansätze. „Sie hat die Bevölkerung 25 Jahre lang für die Israelis verwaltet, ohne dass sich für uns Palästinenser etwas zum Positiven verändert hätte“, sagt die Sozialaktivistin. Sie beklagt die Spaltung der Palästinenser, die der 1993 begonnene Oslo-Prozess durch seine Trennungsmaßnahmen massiv verschärft habe. Dies mache eine einheitliche, konstruktive Haltung, wie sie während der Ersten Intifada zwischen 1987 und 1993 noch üblich war, fast unmöglich. „Wir brauchen einen innergesellschaftlichen Dialog, Wahlen und eine Reform unserer Vertretungsorgane, vor allem der PLO.“ Vor Ort herrsche bereits seit vielen Jahren ein Zustand von Apartheid. An der Realität palästinensischer Tagelöhner, die eine Arbeitserlaubnis für Israel bräuchten, um ihre Familien durchzubringen, meint Daibes, würde sich durch eine Annexion wenig ändern. Viele junge Palästinenser wünschten sich einen israelischen Pass, um endlich die gleichen Freiheiten wie ihre Nachbarn zu haben. „Einige von ihnen kennen Jerusalem nur aus dem Fernsehen und haben zu ihrer Hauptstadt keinen direkten Bezug.“
Nachdem israelische Polizisten jetzt den palästinensischen Autisten Iyad Hallak erschossen hätten, sei ihnen bewusst geworden, dass sie als Palästinenser nichts davor schütze, im Zweifelsfall getötet zu werden. Unter ihnen gibt es eine Welle der Solidarität mit dem Opfer des Polizistenmordes in Minneapolis. „Palestinian Lives Matter“ proklamieren denn auch palästinensische Israelis während der Demonstration am Rabin-Platz. Die Lage ist brisant. Die Pläne der israelischen Regierung haben international das Bewusstsein dafür geschärft, dass es den Nahostkonflikt noch gibt. Areej Daibes bleibt optimistisch: „Ich gebe Palästina nicht auf.“
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