„Der Holocaust wurde nicht mit der Befreiung der Konzentrationslager beendet. Er lebt in allen weiter, die mit ihm in Berührung waren“, schreibt Maya Jacobs, geborene Lasker-Wallfisch, in ihrem Debüt. Sehr persönlich erzählt die 62-Jährige, wie sich die Verfolgung und Ermordung ihrer Familie auf sie auswirkte. Ihre Mutter Anita Lasker-Wallfisch überlebte Auschwitz, weil sie dort im Orchester Cello spielen „durfte“ – für die Zwangsarbeiter und die Todgeweihten auf dem Weg in die Gaskammern, Tag für Tag. Die Cellistin konnte auch ihre ältere Schwester Renate retten. Die Teenager überwanden Typhus und 1944 den Transport nach Bergen-Belsen, wo sie befreit wurden. Da war Anita 19 und seit drei Jahren Vollwaise: Die Nazis hatten ihre Eltern ermordet.
Darüber wusste Maya lange fast nichts. Erst 40 Jahre nach dem Krieg konnte ihre Mutter ihr Schweigen brechen. Sie schenkte ihren beiden Kindern zu Weihnachten ihre Erinnerungen: Meine Geschichte. Da war Maya längst zum Resonanzboden der Traumata ihrer Mutter geworden. Sie hatte deren Ängste von damals unbewusst übernommen, trug ihre tief vergrabene Trauer in sich, die Verlassenheits- und die Schuldgefühle, anstelle der Eltern überlebt zu haben. Bis ins Erwachsenenalter stellte sie sich als „die Tochter der Cellistin von Birkenau“ vor, ohne zu bemerken, dass sie noch fern davon war, zu begreifen, wer sie selber war.
„Stell dich nicht so an“, sagte ihre Mutter häufig, wenn Maya sich nicht wohlfühlte. Angesichts dessen, was Anita im KZ widerfahren war, waren die Kümmernisse ihres labilen Kindes für sie bedeutungslos. Mit diesem Satz ist eine Generation groß geworden. Die Eltern waren oft emotional unfähig, auf alltägliche Probleme ihrer Kinder angemessen zu reagieren. Verschlossen, hart gegen sich selbst und andere: Selbstdisziplin und Leistung bildeten den Panzer, der sie vor ihren Gefühlen schützte. Eisern schwiegen sie über das, was sie erlitten, gesehen, geduldet oder verbrochen hatten. Die Nazi-Täter wollten sich vor Bestrafung schützen, Mitläufer, narzisstisch gekränkt, schwiegen angesichts der Ächtung ihrer gescheiterten NS-Ideologie, die Einsichtigeren aus Scham und Schuld.
Entzug und Heilung
Die meisten Europäer waren vom Krieg traumatisiert, ob schuldig oder unschuldig. Die Überlebenden hingegen konnten ihre Traumata beim besten Willen nicht artikulieren. Erinnerungen aus der Todesmaschinerie hätten den Albtraum wiederbelebt. Noch lange nach dem Krieg waren die wenigsten bereit, Erzählungen von so unvorstellbarem Leid zu hören. Das Schweigen wurde so zur Norm, ungeschöntes Erzählen zum Tabu.
Traumatische Erlebnisse werden, weiß die Psychologie, an die nächste Generation weitergegeben, wenn sie nicht verarbeitet wurden. Aus der Epigenetik weiß man auch, dass Traumata durch chemische Marken vererbbare Gene verändern können. Diese Formen der Weitergabe erklären teilweise, warum viele aus der Kriegsgeneration, sei es auf Täter- oder Opferseite, oft unerschütterlich wirkten, während Kinder oder Enkel unter der Last der Vergangenheit zusammenbrachen. Die Nachkommen leiden oft unter Depressionen und Orientierungslosigkeit, ohne die Ursachen zu kennen, weil das Damals vom Heute zu Hause radikal abgespalten wurde.
In ihrem Buch repariert die Autorin das zerrissene Band zur Zeit vor dem NS-Terror. Sie schreibt fiktive Briefe an ihre ermordeten Großeltern nach Breslau. Sie erinnert sie an deren Leben als assimilierte Juden, die sich als sehr viel deutscher denn jüdisch empfanden, schildert, wie ihre drei Töchter überlebten, mit welch beeindruckender Kraft sie ihr Leben meisterten: Anita war Mitbegründerin des English Chamber Orchestra in London, Renate wurde Journalistin und zog mit ihrem späteren Mann, dem Publizisten Klaus Harpprecht, nach Frankreich. Marianne, die Älteste, wanderte nach Palästina aus, wo sie Israel als Tischlerin mit aufbaute, bis sie, viel zu früh, im Kindbett verstarb.
Parallel berichtet Maya über ihr eigenes Leben. Das ist atemberaubend und oft erschütternd: ein überspanntes Mädchen, das sich nicht anpassen kann und die hohen Erwartungen seiner Eltern enttäuscht, das in keiner der ständig wechselnden Schulen Halt findet, permanent verunsichert ist und drogenabhängig wird. Ein Teenager, der es gerade bis zur Mittleren Reife schafft, den der völlig überforderte Vater meidet. Mayas auffälliges Verhalten ist Ausdruck verzweifelter Überlebensstrategien des Kindes einer KZ-Überlebenden, die das Trauma in „einer normalen Atmosphäre“ daheim überwinden wollte, wo „praktisch nichts normal“ war.
Dann Maya als junge Frau, die sich als Escort in Clubs, Croupier beim Roulette, Hostess und Scheckbetrügerin durchschlägt. Maya sagt, sie sei die „Wunde der Familie“ gewesen, in der die „nicht erklärte Vergangenheit“ steckte. Bis sie mithilfe ihrer Mutter den Heilungsprozess in einer Entzugsklinik beginnt. Erst als reife Frau und Mutter eines Sohnes entwickelt sie ihre eigene Identität, findet Zugang zu eigenen Gefühlen und in den Kreis der Familie zurück. Lasker-Wallfisch ist heute Psychotherapeutin und anerkannte Suchtberaterin in London. Anita Lasker-Wallfisch gehört zu den artikuliertesten Zeitzeugen der Schoah. 2018 sprach sie am Holocaust-Gedenktag vor dem Bundestag. Mittlerweile treten Mutter und Tochter gemeinsam auf, auch in Deutschland, das Anita früher nie mehr betreten wollte. Der Prozess einer gemeinsamen Heilung.
Mayas mutiges Buch hat das Verständnis für transgenerationelle Übertragungen, den Blick auf mehrere Generationen in historischen Kontexten, stark bereichert. Es erinnert an die gefährlichen psychologischen und politischen Hinterlassenschaften der Nazi-Diktatur und beweist, dass der destruktive Bann der Vergangenheit gebrochen werden kann.
Info
Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen Maya Lasker-Wallfisch Marieke Heimburger (Übers.), Insel 2020, 254 S., 24 €
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