Erbsünde und Versöhnung

Islamismus Pascal Bruckners „Der eingebildete Rassimus“ strotzt vor Klischees. Es ist das Potpourri eines gekränkten 68ers
Ausgabe 45/2020

Der Mord an Samuel Paty rückt die Barbarei unmittelbar in unsere Nähe. Der französische Lehrer wollte Meinungsfreiheit lehren und verwendete ausgerechnet jene Karikaturen, die 2015 zum tödlichen Anschlag auf zwölf Redaktionsmitglieder des Satiremagazins Charlie Hebdo führten. Anlass war offenbar, dass die Attentäter heute vor Gericht stehen und die Zeitschrift die Karikaturen abermals veröffentlichte. Patys Engagement war, wie wir jetzt wissen, leichtsinnig, vielleicht naiv. Denn der Islamismus war mit der Zurückdrängung des IS durch eine internationale Allianz, zu der auch die Franzosen gehören, nicht verschwunden. Vielmehr schwelen narzisstisch aufgeladene Visionen eines dschihadistischen Islam vor allem unter jungen, leicht beeinflussbaren Menschen weiter. Patys tschetschenischer Mörder war fast noch ein Teenager: Er wuchs in einer Zwischenwelt auf, losgelöst von der Herkunft seiner eingewanderten Eltern und nicht verankert in der neuen Heimat. Wie fern seiner Gefühle muss ein 18-Jähriger sein, der fähig ist, einen Mann zu enthaupten?

Nun sind sie beide tot, der Lehrer und sein Henker. Die französische Justiz kümmert sich um die Mittäter, der Rechtsstaat ist die Richtlinie, Mord ist Mord. Abgründe dieses Ausmaßes schreien aber auch nach moralischen Erklärungen und danach, den Kontext zu begreifen. Die Melange von Politik, Geschichte, Wirtschaft, Religion, Gesellschafts- und Individualpsychologie liefert keineswegs eindeutige Antworten. Derlei Komplexität ist schwer auszuhalten, der Reflex, holzschnittartig zu urteilen und der Logik der Gewalt zu verfallen, ist stark. Wie beantworten Gesellschaft und Politik eine Situation, in der eindeutige Reaktionen auf Terrorakte eine Notwendigkeit sind – Besonnenheit und Innehalten jedoch ebenso?

Die Ratlosigkeit führt zu Übersprung-handlungen. Emmanuel Macron nannte Paty auf der Gedenkfeier „das Gesicht der Republik“ und betonte, man werde die Freiheit und den Laizismus Frankreichs verteidigen. Der Lehrer sei das Opfer von Hass – „einem Hass auf das, was wir zutiefst sind“. Der Staatspräsident skizzierte ein Wir und Ihr, eine gespaltene Gesellschaft. Es klang nach dem „Kampf der Kulturen“, den der umstrittene US-Politikwissenschaftler Samuel Huntington 1996 formulierte. Indes, die Mehrheit der französischen Muslime lebt weder abgeschottet von der Gesellschaft noch antagonistisch zu ihr. Anfang Oktober hatte Macron seinen Fünf-Punkte-Plan vorgestellt. Mit dem Maßnahmenkatalog will er das, was er als „islamistischen Separatismus“ bezeichnet, bekämpfen und in einen „französischen Islam“ umwandeln. Der laizistische Staat würde also künftig entscheiden, wie eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ihre Religion ausüben sollte. Diese Spaltung könnte antimuslimische Ressentiments weiter anheizen. Dass die Republik auf verunglimpfende Satire auch in Zukunft nicht verzichten wird, machte auch Charlie Hebdo deutlich. Das Magazin hob einen vulgären und nicht mal witzigen Cartoon vom türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan aufs Titelblatt, der einer Frau den Schleier hebt und darunter ihren nackten Hintern entblößt. Erdoğan hatte Macron der Islamfeindlichkeit beschuldigt und zum Boykott französischer Waren aufgerufen. In einer befremdlichen Form von Selbstkasteiung, faktisch nicht haltbar, glauben nun sogar deutsche Linke sich durch Ignoranz gegenüber dem Islamismus schuldig gemacht zu haben. Hauptsache, sie schweigen jetzt nicht wie jene, die den Terror von rechts nicht wahrhaben wollten.

In der Show 28 Minuten auf Arte ging der Intellektuelle Pascal Bruckner so weit, die Feministin und Antirassismus-Aktivistin Rokhaya Diallo der ideologischen Komplizenschaft mit den Mördern der Charlie-Hebdo-Redaktion zu bezichtigen, weil sie 2011 – vier Jahre vor dem Anschlag – einen Text unterzeichnet hatte, in dem die Redaktion als rassistisch und islamophob bezeichnet wird. Sie habe den Killern die Waffen gegeben. „Ihr Status als schwarze Muslima macht sie zu einer Privilegierten“, fügte Bruckner hinzu, sie missbrauche dieses Privileg, um Hass auf weiße Männer zu schüren. Der 71-Jährige zählt zur französischen Nouvelle Philosophie, deren Vertreter durch Provokation immer wieder auf sich aufmerksam machen. 2013 unterzeichnete er das „Manifest der Bastarde“, in dem 343 Männer „Hände weg von meiner Hure“ forderten und sich gegen rechtliche Schritte gegen Freier aussprachen. Das Manifest bezog sich auf die feministische Kampagne von 343 Frauen, die sich 1971 für die Legalisierung der Abtreibung einsetzten. Vor diesem Hintergrund zeugt Bruckners aggressiver Auftritt gegen die Feministin Diallo von einer fast obszönen Schieflage.

Schleier, Burka und Burkini

2014 erschien Bruckners Buch Un bon Fils über seinen Vater, einen fanatischen Antisemiten, der Frau und Sohn misshandelte. Irgendwann, so der Autor, habe er angefangen, sich mit denen zu identifizieren, die sein Vater so hasste: den Juden. Bruckner, 1979 bekannt geworden durch sein mit Alain Finkielkraut verfasstes Buch Die neue Liebesunordnung, wird selbst oft als Jude wahrgenommen. Im Berliner Tiamat Verlag, einem Verlag der differenzierten Töne, hat Bruckner jetzt eine Reihe von Artikeln und Vorträgen veröffentlicht, in denen er „Islamophobie und Schuld“ nachgeht. Das Spannungsfeld zwischen Opfern und Tätern ist auch hier sein Thema. Der Zeitpunkt der Publikation wäre verlegerisch perfekt, wenn dieser Band nicht ein Fehlgriff wäre. Denn statt Antworten liefert Bruckner nichts als überzogene Vorwürfe und Klischees. Er führt die französische Misere pauschal auf die Borniertheit „der Linken“ zurück. Linke hätten nach dem Niedergang des Kommunismus im Islamismus eine Ersatzideologie gefunden, den islamistischen Terror verniedlicht und sich mit dem Islam als Religion der Unterdrückten überidentifiziert. Indem sie Muslime als Opfer idealisierten, anstatt sie für ihre Taten in die Verantwortung zu nehmen, seien sie die eigentlichen Rassisten.

Antimuslimische Ressentiments sind gemäß Bruckner ein „eingebildeter Rassismus“. Linke agierten als „Sprachpolizei“, womit sie die Meinungsfreiheit zugunsten einer diktatorischen muslimischen Minderheit opferten. Der Essayist behauptet, sie behandelten liberale Muslime, die ihre Religion kritisieren, wie Verräter. Dabei bezieht er sich auf Islamkritiker, die mit Pauschalurteilen krude am Ziel vorbeischießen, während er jene Reformer, die keine bequemen Antworten liefern, ignoriert. In abwertendem Ton erklärt er den Islam für gescheitert und die Muslime für unfähig, mit Freiheit umzugehen. Er unterstellt renommierten Kennern des radikalen Islam wie dem Politikwissenschaftler Oliver Roy mangelhafte Wissenschaftlichkeit, derweil er seine eigenen Argumente weder konsequent durchdacht noch wissenschaftlich fundiert vorträgt. Übergriffig wird es, wenn Bruckner oberflächlich über Schleier, Burka und Burkini schwadroniert oder Feministinnen gar vorwirft, die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln zu verharmlosen und die angegriffenen Frauen, antirassistisch verblendet, im Stich gelassen zu haben. Die Feministinnen hatten es lediglich gewagt, sexuelle Gewalt gegen Frauen als ein globales, strukturelles Problem zu bezeichnen, dem nicht allein mit Vorurteilen gegenüber muslimischen Männern zu begegnen sei.

Bruckners Sprache ist oft martialisch, seine Gedanken sind vermischt mit christlichen Leitgedanken von Erbsünde und Versöhnung. Das ist das Potpourri eines offensichtlich gekränkten Alt-68ers, der sich von emanzipierten Musliminnen und verschleierten Frauen die Lust am Minirock und an Prostituierten nicht nehmen lassen will. Sein Hohelied auf die französische Freiheit ist Ausdruck einer eurozentristisch-postkolonialen Haltung.

Auch Worte können Waffen sein, oft sind sie die Vorstufe zur Barbarei. Dieses Buch ist ein verbaler Kreuzzug und kein Beitrag, der Frankreich oder Europa in der Krise weiterbringt.

Info

Der eingebildete Rassismus: Islamophobie und Schuld Pascal Bruckner Alexander Carstiuc, Mark Feldon, Christoph Hesse & Uli Krug (Übers.), Edition Tiamat 2020, 240 S., 24 €

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