Mitte Mai vor 75 Jahren lieferte sich der Gesandte des Dritten Reichs in der Slowakei, Hanns Elard Ludin, nach kurzer Flucht den amerikanischen Besatzern aus. Während seiner Amtszeit von 1941 bis 1945 wurden 70.000 slowakische Juden deportiert und fast alle später in KZs ermordet. Der „Botschafter im Braunhemd“ kam in Bratislava vor Gericht. Er strickte dort an seiner Legende von der Unschuld, die er auch seiner Frau vermittelte: „Dass ich kein Verbrecher bin, weißt Du ... (mein Herz ist) weder eines unmenschlichen Gefühls, noch einer unmenschlichen Handlung fähig.“ Das Gericht sah das anders: Ende 1947 wurde er als Kriegsverbrecher gehenkt.
Hanns Ludin war mein Großvater. Seine älteste Tochter brachte mich 14 Jahre nach seinem Tod zur Welt. Ich wuchs mit einer Mutter auf, die unter diesem Erbe litt. Offen sprach sie darüber nie. Zwar war es kein Geheimnis, dass Ludin ein Nationalsozialist war, aber lange dachte ich, dass ein gebildeter Mann wie er sich zur Barbarei nicht eigne. Diesen Glauben nährte meine Großmutter, denn sie erzog ihre Kinder und Enkel mit dem Bild vom unschuldigen Nazi, an dem man sich durch die Todesstrafe stellvertretend für andere gerächt hatte. Der Täter wurde in ein Opfer verkehrt. Die Tatsachen derart zu verdrehen, war mitnichten ungewöhnlich, allenthalben wurde verdrängt, vertuscht, geleugnet, gelogen. Das Schweigen war zur gesellschaftlichen Norm geworden – und hält sich bis heute hartnäckig, sofern es um die eigenen Verwandten geht.
Anders als Ludin, kamen viele Nazis nach dem Krieg davon, machten sogar wieder Karriere. Meines Großvaters rechte Hand in der Slowakei, Hans Gmelin, war zwanzig Jahre lang Oberbürgermeister Tübingens, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz. Er pflegte das braune Netzwerk, das es auch in Tübingen gab. Erst 2018 wurde ihm posthum die Ehrenbürgerschaft der Stadt entzogen. Sogar seine Tochter Herta Däubler-Gmelin, später Justizministerin für die SPD, tat sich schwer, die Vergangenheit ihres Vaters preiszugeben.
Der Vorgesetzte meines Großvaters im Auswärtigen Amt war Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Sein Sohn Richard stellte ihn als widerständig dar, was nicht schwerfiel, war doch das Auswärtige Amt jahrzehntelang von einem falschen Mythos des Widerstands umrankt. In seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges, am 8. Mai 1985, entwickelte der damalige Bundespräsident vordergründig ein aufklärerisches Narrativ. Schaut man allerdings genauer hin, diente es der Verschleierung und Entlastung.
Auch Richard Weizsäcker verkehrte die Täter in Opfer, indem er die Deutschen als befreit von der Nazi-Gewaltherrschaft darstellte, als hätten sie diese nicht zu verantworten gehabt. Auch koppelte er das Gedenken an Versprechen von Versöhnung und Erlösung. Täter können sich indes nicht selbst die Absolution erteilen. Es gibt auch keine Befreiung von der Vergangenheit, denn die „Tatsachenwahrheiten“ (Hannah Arendt) bleiben mit ihren Wirkungen bestehen.
Nicht einfach nur „verstrickt“
„Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird“, meinte Weizsäcker. Ein jeder solle sich „im Stillen selbst nach seiner Verstrickung“ fragen. Es ist aber wenig ehrlich, wenn ein Bundespräsident der Opfer gedenkt, die Täter jedoch nicht benennt. Er verschweigt, dass sein eigener Vater in die Vernichtungspolitik der Nazis nicht nur „verstrickt“, sondern aktiv an ihr beteiligt war. Wo die Täter nicht klar identifiziert werden, verlieren auch die Opfer ihre Konturen – bis schließlich beide in Vergessenheit geraten. Man muss auch fragen, warum die persönliche Reflexion über die NS-Zeit „im Stillen“ stattzufinden habe. Es entsteht kein Diskurs, keine Weitergabe von Erfahrung, solange diese Auseinandersetzung still bleibt.
Indem der höchste Repräsentant des Staates von der eigenen Familiengeschichte ablenkte und im Allgemeinen verharrte, bot er die Vorlage zum fortgesetzten Schweigen. Er lud seine Zuhörer nämlich dazu ein, die NS-Verbrechen ebenfalls nebulösen Dritten zuzuschreiben, keinesfalls den eigenen Verwandten. Die Täter werden dabei zu abstrakten Zahlen, kognitiv zwar erfassbar, emotional hingegen abgekoppelt von den Taten und deren Folgen über Generationen hinweg.
Sie bleiben stets „die Anderen“, verlernstofft in Archive, Gedenkstätten und Museen verbannt. Auch ich hatte meinen Großvater lange als neutrale Figur in ein Geschichtsbuch ausgelagert. Erst durch meine Auseinandersetzung mit seiner Rolle und angesichts der Abwehr meiner Familie begriff ich, was der Psychologe und Autor Jürgen Müller-Hohagen mit „Geschichte in uns“ meint. Die Geschichte ist immer Teil unserer persönlichen und gesellschaftlichen Gegenwart.
Weizsäcker trieb vor 35 Jahren einen Keil zwischen die private und die öffentliche Erinnerung, spaltete das Individuelle vom Kollektiven, das Faktische vom Emotionalen. Für ein lebendiges Gedenken ist es hingegen notwendig, beides in Einklang miteinander zu bringen. Nur so lassen sich 75 Jahre nach Krieg und Holocaust starre Rituale und Allgemeinplätze vermeiden, die das Geschehen verdecken und nicht zuletzt die Wahrnehmungen der Opfernachkommen übergehen.
Die Kriegsgeneration und deren Kinder haben einen Dialog mit den Jüngeren in der Regel vermieden. Sie haben geschwiegen oder einen Opferstatus beansprucht: gehungert, verarmt, ausgebombt. Viele gaben Anekdoten zum Besten, verklärten den Krieg. Dieser anti-aufklärerische Umgang mit der persönlichen Vergangenheit hat sich in vielen Familien in Konkurrenz zur öffentlichen Aufarbeitung gesetzt. Erinnerungen bestehen nicht nur aus Fakten, sondern auch aus Emotionen. Die Zeitzeugen sterben, die emotionale Zeugenschaft bleibt derweil erhalten. Trauer, Wut, Rachegedanken, Ängste, Traumata, Schuldgefühle und Scham werden von Generation zu Generation weitergereicht und prägen unsere Denk- und Handlungsmuster.
Ohne persönlichen Bezug fehlt das Bedürfnis, die Erinnerung wachzuhalten. Das Gedenken empfinden viele als lästige Pflicht oder gar als „Vogelschiss“, und es sind nicht nur die Rechten, die einen Schlussstrich fordern. Seit einigen Jahren erleben wir, wie Aufklärung und Erinnerung unter Angriff stehen. Die Ursachen des Vergangenen, da hat Theoder W. Adorno heute noch recht, sind nicht beseitigt, sondern bestehen fort. Ihr Bann ist nicht gebrochen, vielmehr brechen sie sich massiv Bahn: Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus sind wieder salonfähig.
Inflationäre Diagnose: Trauma
Es ist ein Merkmal der Rechten, sich als Opfer ihrer Regierung und der globalen Umstände zu empfinden. Den Feind sehen sie stets außen. Die Schwächsten und Ärmsten – Geflüchtete – erklären sie zu Invasoren, die dem gefühlten „Wir“ Wohlstand und Kultur rauben wollen. Sie verkehren damit Opfer in Täter, was sie aus ihrer Warte dazu berechtigt, sprachliche und physische Gewalt auszuüben. Viele Deutsche, egal welcher politischen Neigung, halten Muslime pauschal für Antisemiten. Sie empfinden sie als Bedrohung, entwerten ihre Identität, und pflegen dabei eigene Vorurteile, bis hin zum Antisemitismus. Sobald es um den Nahostkonflikt geht, überidentifizieren sich die meisten entweder mit den Israelis oder den Palästinensern, je nachdem, wen sie für die Opfer oder die Täter halten. Sie spalten in Gut und Böse und schüren so den Konflikt, anstatt zu schlichten. Für die AfD gilt sogar die anti-demokratische israelische Regierung unter Netanjahu als Verbündeter im Kampf gegen den vermeintlichen muslimischen Feind.
Doch auch Menschen, die sich fern von Ideologie gegen die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete engagieren, gelten mittlerweile reflexartig als Antisemiten. Hier zeigen sich Übersprunghandlungen, die auf alten Mustern fußen.
Der Geist der Vergangenheit wirkt. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, mehrfach durch despektierliche Äußerungen gegen Geflüchtete aufgefallen, sagte angesichts der Corona-Pandemie nun zynisch: „Wir retten Menschen, die möglicherweise sowieso bald sterben.“ Er teilte damit die Menschen in zwei Gruppen, in schützenswerte und opferungswürdige.
Mit diesem Selektionsgedanken stellt er sich in die Tradition seines Vorgängers Gmelin. Damit ist er nicht allein – jene, die eine Dichotomie der Gesellschaft artikulieren, werden immer lauter. Sogar eine jüdische Corona-Weltverschwörung wird behauptet. Der Rechtsruck findet Ausdruck in der Abkehr von Fakten und Wissenschaft, Recht und Gesetz. Bei manchen „Kriegsenkeln“ ist derweil eine Neuauflage der Haltung ihrer Großeltern zu beobachten. Viele empfinden sich wie diese als Opfer der NS-Zeit. Sie suchen Heilung in Therapien und Workshops, sie adressieren die psychischen Belastungen einer oft kontaktlosen Erziehung, der Depressionen und Aggressionen in ihren Familien.
Die Diagnose Trauma wird fast inflationär, willkürlich gefällt: Wir Deutschen, eine Bevölkerung von Traumatisierten. Es entsteht eine Opferkonkurrenz, und die eigentlich Traumatisierten, die Überlebenden und ihre Nachkommen, werden übergangen. Es ist notwendig, sich auch mit den Verletzungen zu beschäftigen, die die Nazis ihren Nachkommen zugefügt haben. Doch sobald die Täterschaft der eigenen Angehörigen aus dem Blick gerät, verliert die Aufarbeitung ihr Gleichgewicht. Eine Beschäftigung mit dem Selbst, bei der das Emotionale sich nicht mit historischen Fakten und politischen Implikationen verbindet und die Verantwortlichkeiten ausblendet, leistet der Entpolitisierung Vorschub. Das erzeugt nolens volens Geschichtsvergessenheit.
Das Ziel der Suche darf nicht Entlastung und Erlösung sein. Wir sollten dem Entsetzen im Sinne Adornos standhalten. Der Blick zurück ist der Auftrag, heute eine politische Haltung zu entwickeln. Wollen wir wirklich begreifen, wie so viele Menschen an einem Massenmord mitwirkten, und sei es nur durch Weggucken, müssen die Täter und Mitläufer in den Familien endlich sichtbar werden. Die Nazis waren nicht nur die Prominenten, es waren keine Monster oder Irre, sondern ganz gewöhnliche Menschen. Es waren unsere Verwandten.
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