Dr. Ghada Al-Jabda steht in diesen Tagen unter dauernder Anspannung. Spätestens nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde am 5. März den Notstand ausgerufen hatte, war der Ärztin klar, dass nun sehr schnell alles getan werden müsse, um die Bevölkerung des Gazastreifens zu schützen. Als am 22. März die ersten beiden Corona-Fälle bekannt wurden – zwei Reisende, die aus Pakistan zurückgekehrt waren –, hatte die Leiterin der 22 Gesundheitszentren des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) bereits allerhand in Bewegung gesetzt, um ihre Mitarbeiter auf das Kommende vorzubereiten und Hochrisikopatienten von anderen Kranken zu trennen. Die Suche nach Masken, Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln lief auf Hochtouren, aber an allem herrscht bisher ein chronischer Mangel, auch an Medikamenten. „Wir haben in ganz Gaza nur 60 Intensivbetten und weniger als 100 Beatmungsgeräte. Damit können wir im Fall der Verbreitung des Virus nur einen winzigen Bruchteil der Menschen behandeln“, sagt die 51-Jährige. Verzweifelt wird über Alternativen zur Beatmung nachgedacht.
Mit knapp zwei Millionen Einwohnern auf 365 Quadratkilometern gehört der Gazastreifen zu den am dichtesten bevölkerten Gebieten der Erde. Das Virus hätte hier leichte Beute, da das Konzept des Social Distancing hier kaum einzuhalten ist. Soziale Nähe ist in dieser Konfliktregion zudem wichtig zum Überleben. 70 Prozent aller Bewohner Gazas sind seit dem Verlust ihres Wohnsitzes durch den arabisch-israelischen Krieg 1948 als Flüchtlinge registriert, der Großteil lebt in acht Flüchtlingslagern. Die Lebensverhältnisse dort sind wenig einladend, in den barackenartigen Gebäuden wohnen oft Großfamilien dicht an dicht. All das bei wenig sauberem Wasser, einem miserablen Abwassersystem und eingeschränkter Stromzufuhr. Die Flüchtlinge sind auf das UN-Hilfswerk angewiesen, das sie mit medizinischer Grundversorgung, Schulunterricht und Lebensmittelrationen unterstützt.
„Wir brauchen ein Wunder“
Dass die Lebensumstände, von den Flüchtlingen abgesehen, auch für das restliche knappe Drittel der Gaza-Bewohner prekär sind, die in Dörfern und Städten leben, geht auf die seit Jahrzehnten andauernde israelische Besatzung zurück. Durch die vollständige Blockade, die Israels Regierung seit 2007 über den Gazastreifen verhängt, und die drei Kriege (siehe Glossar), bei denen das israelische Militär die Infrastruktur massiv beschädigt hat, sind Wirtschaft und Gesundheitswesen an den Rand des Kollapses getrieben. Das Ausmaß der psychischen Schäden, vor allem unter Kindern, ist enorm. Die Weltbank meldete 2019 mehr als 50 Prozent Arbeitslose, unter jungen Menschen sogar 67 und bei Frauen über 70 Prozent. Schon 2015 warnten die Vereinten Nationen, dass Gaza von 2020 an kaum noch bewohnbar sei. Das Coronavirus führt nun zur umfassenden Lebensgefahr für die in einer Küstenenklave seit 13 Jahren quasi internierte Gesellschaft. In Gefängnissen verbreiten sich Krankheiten bekanntlich besonders schnell.
„Ich habe die letzten drei Kriege als Medizinerin erlebt“, sagt Ghada Al-Jabda, „der Corona-Ausbruch könnte diese traumatischen Erfahrungen noch übertreffen.“ Auch Matthias Schmale, der Direktor der UNRWA-Operationen in Gaza, ist alarmiert. Seit drei Wochen probt man für den Ernstfall. Die 276 vom UNRWA betriebenen Schulen sind geschlossen, telefonische Hotlines für die Gesundheitszentren und mobile Kliniken für Hochrisikopatienten eingerichtet. Lebensmittel müssen nun an rund eine Million der ärmsten Flüchtlinge direkt geliefert werden, um Menschenansammlungen zu vermeiden – eine der vielen logistischen Mammutaufgaben. „Wir befinden uns im Wettlauf mit der Zeit“, sagt Schmale. „Gaza ist wie ein Schiff, auf dem sich das Virus wie ein Lauffeuer ausbreiten könnte.“ Die UN-Helfer geben jeden Tag ihr Bestes, um die Bevölkerung über Gespräche, Aushänge, ihre Website und soziale Medien aufzuklären.
Am 5. April waren zwölf Corona-Fälle registriert, die Zahl der Erkrankungen lag vermutlich höher, denn die Testkapazitäten sind sehr begrenzt. Auch die Hamas-Regierung ist aktiv geworden, anfangs noch zögerlich. „Man befürchtete wohl, unpopuläre Entscheidungen durchsetzen zu müssen“, sagt Raji Sourani. Der Leiter des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte ermahnte die lokale Führung früh, konsequent zu handeln – man befinde sich nicht im Wahlkampf!
Das Menschenrechtszentrum verlangte von den Behörden, umgehend alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Seit Wochen sind Schulen und Universitäten geschlossen, mittlerweile auch Abteilungen der dürftig ausgestatteten Krankenhäuser für die Aufnahme von Corona-Fällen geleert. Schulen wurden in Quarantänestellen umgewandelt. Auch Hotels sind geräumt, um Platz für Notbehandlungen zu schaffen, Wochenmärkte untersagt. Ja, sogar die Moscheen haben ihre Gottesdienste eingestellt. In den Supermärkten und Geschäften wird auf Schutz geachtet.
Im Süden des Gazastreifens, nahe der Grenze zu Ägypten, wurde eine provisorische Quarantänestation eingerichtet, in der gut 1.500 Menschen untergebracht sind – unter belastenden Bedingungen. Es gab einen Skandal, als ein Pressesprecher der Hamas-Regierung zwei Journalisten erlaubte, die ersten zwei Infizierten und Pflegepersonal in der Quarantäne zu interviewen. Die Journalisten wurden isoliert, der Verantwortliche suspendiert.
Raji Sourani, 66, als erster Palästinenser wegen seines Engagements für die Menschenrechte mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, befürchtet, dass sich ohne weitere Hilfe von außen eine Katastrophe nicht verhindern lasse – noch immer gebe es hier und da Menschenansammlungen, etwa vor Banken oder auf Plätzen. „Wir brauchen ein Wunder“, sagt der Vater von Zwillingen. Er sei froh, dass die Autonomiebehörde in der Westbank und die Hamas in Gaza in diesem Augenblick endlich zu einer Kooperation fänden, auch die israelische Regierung zeige sich zugänglich. „Nach internationalem Recht ist Israel als Besatzer und Belagerer verpflichtet, das Wohl der Menschen hier zu garantieren. Palästinenser und Israelis befinden sich jetzt in einem Boot. Es ist auch im Interesse Israels, uns zu helfen“, so der Rechtsanwalt. „Diese Pandemie diskriminiert nicht, sie kennt keine Grenzen, keine unterschiedlichen Hautfarben, Religionen oder Geschlechter.“
Hamsterkäufe: unbekannt
Maissa Abdul-Halim setzt sich im Zentrum für Demokratie und Konfliktlösung für die politische Partizipation von Frauen und jungen Menschen ein. Die 30-Jährige beobachtet, dass in der Gemeindearbeit die Frauen zuletzt gestärkt wurden. Ein Lockdown wegen Corona werde freilich für mehr häusliche Gewalt und eine Stigmatisierung von Infizierten, insbesondere Frauen, sorgen, glaubt Maissa.
Mittlerweile arbeitet sie wie die meisten Leute von zu Hause aus, in Khan Younis, einer Stadt im Süden. Alle Restaurants und Cafés sind geschlossen, nur die Supermärkte geöffnet, in denen noch alles Notwendige im Sortiment zu finden ist, denn die israelischen Behörden lassen die Lieferungen an der Grenze passieren. Beim Einkaufen trägt Maissa Handschuhe und eine Maske, die ihr Vater für sie besorgt hat. In Gaza sind das Luxusartikel, die sich nur der Mittelstand leisten kann. Engen Kontakt hat sie nur mit ihrer Familie, wohnt sie doch als Unverheiratete noch im Elternhaus, zusammen mit drei ihrer sechs Geschwister. Abends unterhalte sie sich intensiv mit ihrem Vater. „Für eine, die aus Gaza stammt, mag es merkwürdig klingen“, sagt Maissa, „aber ich erzählte ihm, dass ich sehr traurig bin über das, was diese Pandemie mit uns Menschen anrichtet – zugleich aber froh darüber, dass die Erde sich erholen kann.“
Ihre Altersgenossin Karama Fadel ist enttäuscht. Die Englischlehrerin, die den Gazastreifen noch nie in ihrem Leben verlassen, geschweige denn ein Flugzeug betreten hat, war voller Vorfreude auf ihr Studium und das Stipendium in den USA – nun hat sich das einstweilen zerschlagen. Wieder einmal muss viel Frustration ausgehalten und Geduld aufgebracht werden, für die Menschen hier der Normalzustand. Stolz erzählt Karama von Mohammed Abu Matar. Der 33-jährige Produktdesigner hat in seinem Kleinunternehmen jetzt Ventile für Beatmungsgeräte und Gesichtsmasken im 3-D-Druck hergestellt. 15 Stunden täglich arbeitet er daran, ein Beatmungssystem zu produzieren und bestehende Geräte mehrfach nutzbar zu machen.
Angst geht um. Doch die Menschen trotzen auch dieser Herausforderung. Rami Aman, Gründer des Gaza-Jugendkomitees und Friedensaktivist, stellt unbeirrt Online-Begegnungen mit Menschen in aller Welt und vor allem mit Israelis her. Ihm und anderen Aktivisten ist bewusst, dass die Frage nach ihrer Befreiung für längere Zeit hinter der Corona-Krise verschwinden wird. Er sagt, für ihn sei Corona „nur eines von vielen Viren, mit denen wir Palästinenser zu kämpfen haben“. Seinen Mitbürgern, die Israelis nur als Soldaten, Scharfschützen oder Siedler kennen, will er zeigen, dass es auf der anderen Seite des Zauns auch Menschen gibt, die sich ihnen gegenüber solidarisch verhalten. Seine Videoschalten sind vielen in Gaza ein Dorn im Auge. Rami war wegen seiner Aktivitäten schon mehrfach inhaftiert. Er hat gelernt, mit Risiken zu leben.
Gazas Bevölkerung versteht es, mit existenziellen Krisen umzugehen. Hamsterkäufe gibt es nicht. Mit Ausgangssperren sind die Menschen groß geworden, Solidarität und Kreativität hatten stets einen besonderen Wert. „Hallo Welt, wie geht es euch mit der Abriegelung? Alles Liebe aus Gaza“, lautet einer der Sprüche, die über die sozialen Medien im Umlauf sind. Dahinter verbirgt sich eine freundliche Form von Sarkasmus: Humor als Überlebensmodus. „Für uns ist es jetzt fast leichter, mit dieser ungewohnten Situation umzugehen, als für euch Europäer“, sagt der Rechtsanwalt Sharhabeel Al Zaeem. Doch in Wahrheit sei es traurig, so etwas zu sagen.
Kriege seit 2008
Konfrontation Nachdem die Hamas 2006 Wahlen in den Palästinensergebieten gewonnen hatte, eine Regierung mit der Fatah scheiterte und sie Gaza danach allein regierte, wuchsen die Spannungen mit Israel. Dessen Armee riegelte das Gebiet ab, zugleich gab es von dort immer wieder Raketenangriffe auf den Süden Israels. Der Konflikt kulminierte in drei israelischen Militärinterventionen aus der Luft, flankiert von Artillerie und Panzerkräften am Boden. Es begann Ende 2008 mit der „Operation Gegossenes Blei“, zwischen dem 14. und 21. November 2012 folgte die „Operation Wolkensäule“. Schließlich führte die „Operation Protective Edge“ von Juli bis August 2014 mit einer israelischen Panzeroffensive zu den höchsten Opferzahlen aller Angriffe seit 2008. Sie lagen auf palästinensischer Seite laut den Vereinten Nationen bei 1.814 Toten, auf israelischer nach Regierungsangaben bei 13 Gefallenen.
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