Flucht nach Europa: Eine atemberaubende Geschichte des Pulitzerpreisträgers 2022

Undercover Der kanadische Journalist Matthieu Aikins begleitet seinen afghanischen Dolmetscher Omar auf der Flucht vor den Taliban. Dafür gibt er sich selbst als Afghane aus. Sein nun erschienenes Werk ist atemberaubend, authentisch und hautnah
Ausgabe 35/2022
Feuer nahe des Geflüchtetencamps Moria auf der griechischen Insel Lesbos, September 2016
Feuer nahe des Geflüchtetencamps Moria auf der griechischen Insel Lesbos, September 2016

Foto: Stringer/AFP

Im Mittelmeer sind seit 2014 mindestens 24.500 Menschen verschwunden, allein dieses Jahr ertranken schon über tausend Flüchtende. Sie bleiben meist anonyme Zahlen in Statistiken. Über Flucht und Migration gibt es wichtige Bücher von Carola Rackete bis Jean Ziegler. Das nun erschienene Werk von Matthieu Aikins ragt heraus. 2016 begleitete der kanadische Journalist seinen afghanischen Dolmetscher Omar auf der Flucht vor den Taliban.

Als langjähriger Afghanistanreporter der Landessprache mächtig und von dunklem Teint, gab Aikins sich als Afghane aus. „Schon seit einiger Zeit übte ich mein Alter Ego ein, einen jungen Kabuler bescheidener Herkunft, sechsundzwanzig Jahre alt (statt einunddreißig, wie in Wahrheit), um möglichst wenig erklären zu müssen.“ Der preisgekrönte Kriegsreporter, der für die großen New Yorker Publikationen und den Rolling Stone schreibt, nahm dieses gefährliche Unternehmen auf sich, weil er seit 2009 mit Omar in Kabul zusammengearbeitet und sich mit ihm angefreundet hatte. Neugier spielte freilich auch eine Rolle: Was erleben Menschen auf der Flucht? Aikins thematisiert die Ambivalenz zwischen Freundschaft und Profession, ihm geht es nicht um eine reißerische Undercover-Reportage, sondern um Verstehen und Solidarität.

Omars Familie war bereits in die Türkei geflohen, 2015 auf dem „Höhepunkt der größten Flüchtlingsbewegung über Wasser in der Geschichte“. Auch für Afghanen und Afghaninnen wird es immer gefährlicher, im Land zu bleiben, die Taliban rücken vor, der Hunger wächst. Wegen der Liebe zu einer Frau zögert Omar noch, zu lang. Denn im März 2016 macht Europa mit dem EU-Türkei-Pakt die Schotten dicht, die legale Einreise ist blockiert. Ein Putschversuch in der Türkei verhindert es dann, mit einem Visum nach Istanbul zu fliegen.

Somit bleibt nur die Route durch die pakistanische „Wüste des Todes“ oder nicht minder riskant über den Iran. Omar versucht alles, oft hält ihn die Angst zurück, stets begleitet von seinem Freund, dem Journalisten, der seine Tagebuchnotizen als E-Mails an sich selbst sichert. An einem Punkt trennen sie sich, Omar schafft es über den Iran in die Türkei, Aikins schlägt sich über Bulgarien durch, teils zu Fuß und schwimmend durch den Fluss Rezovo, ohne Dokumente, wie ein Illegaler, stets in Gefahr, verhaftet zu werden. In Istanbul finden sie bei Omars Mutter wieder zusammen. Deren 40-jährige Fluchtgeschichte für sich allein spiegelt die bewegten historischen Entwicklungen des Nahen und Mittleren Ostens wider.

Ein besetztes Hotel in Athen

Gemeinsam setzen die Männer in einer Gruppe von Flüchtenden in einem Boot von Izmir nach Griechenland über. Sie landen im berüchtigten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Aikins dokumentiert die quälenden Lebensumstände, das Warten voller Ungewissheit, porträtiert Flüchtende, darunter Kinder. „Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich eine Ahnung davon, was eine Grenze für viele Menschen bedeutet: eine Mauer zwischen dir und einer Person, die du liebst“, so der Autor. Er beschreibt die Schmuggler, auch selbst Geflüchtete, die extremen Fluchtwege, für die sich viele in ihrer Not entscheiden, oft mit tödlichem Ausgang. Unterdessen kippt die Stimmung, überall entstehen Mauern, Stacheldraht und Schutzwälle: Europa wird zur Festung. Auf der monatelangen Flucht landet das ungewöhnliche Paar schließlich in Athen. In einem besetzten Hotel harren sie unter anderen Flüchtenden aus, mit griechischen Autonomen und internationalen (oft deutschen) Flüchtlingshelfern, bis die Flucht weitergeht.

Es ist eine atemberaubende Reise, authentisch und hautnah am Geschehen, poetisch und liebevoll geschrieben, verwebt mit politischen, historischen und kulturellen Fakten über die ganze Region. Matthieu Aikins, Träger des Pulitzerpreises 2022 für internationale Berichterstattung über die zivilen Opfer bei US-Luftangriffen, ist mit seinem ersten Buch eine einzigartige Geschichte gelungen, über Menschen, die verbunden und durch äußere Umstände doch brutal getrennt sind. Sie verdient Aufmerksamkeit.

Info

Die Nackten fürchten kein Wasser: Eine Reise mit afghanischen Flüchtlingen Matthieu Aikins Barbara Schaden (Übers.), Hoffmann und Campe 2022, 441 S., 26 €

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