Raus aus der Küche!

Biografie Die Journalistin Mely Kiyak beschreibt ihre Integration als Mensch, nicht als Gastarbeiterkind
Ausgabe 39/2020

Mely Kiyak fordert ihre Leser zum Denken und zur Selbstreflexion heraus: Frausein ist ein vielschichtig komponiertes Essay, scharfsinnig und berührend. In ihrem autobiografischen Text geht es um Migrationserfahrungen, Persönlichkeitsentwicklung und Integration. Die Autorin greift das rechtspopulistische Konstrukt von Identität an, das vermeintlich Anderen genormte, negative Vorstellungen zuschreibt, um sie auszugrenzen und sich selbst darüber als monolithisches Ganzes zu idealisieren. Anhand ihrer eigenen Biografie zeigt Kiyak, dass Identität keine feststehende, unveränderbare Entität ist, sondern das Ergebnis emanzipatorischer Prozesse, die sich im Spannungsfeld von Widersprüchen bewegen, denen gegenüber Klischees und Vorurteile in sich zusammenbrechen.

Alles beginnt mit einer Augenentzündung. Das Spiegelbild der Autorin verschwimmt, sie löst sich auf, dekonstruiert ihre eigene Geschichte. Zurück auf Anfang. Bei Kiyak gibt es aber keine Anfänge, „es gibt nur den Blick zurück“. Sie setzt die Fragmente ihres Lebens aufs Neue zusammen. Das Mosaik einer Person entsteht, Stück für Stück wird das Kind zum Mädchen und zur Frau — einer Frau wohlgemerkt, die sich übers Schreiben definiert. Mely Kiyak ist bekannt für ihre Bücher, Artikel und Kolumnen, in denen sie sich streitbar zum Thema Migrations- und Integrationspolitik äußert.

Hauptsache, keine Putzfrau

Die Autorin ist die Tochter kurdischer Einwanderer aus der Türkei, 1976 in Sulingen in Niedersachsen geboren. Ihre Mutter verdingte sich als Putzfrau beim Amtsgericht, ihr Vater als Fabrikarbeiter. Ihnen und anderen in den 1970er Jahren eingewanderten Gastarbeitern wurde das deutsche Leistungsprinzip oktroyiert, ihre Bedürfnisse und Befindlichkeiten spielten keine Rolle: „Arbeiten als Daseinsberechtigung für den Deutschland-Aufenthalt“, sagt Kiyak, nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit. In den 1980ern bot der deutsche Staat türkischen Gastarbeitern Rückkehrprämien an, um sie aus den Sozialkassen streichen zu können; wer zurückging, wurde „aus dem Gedächtnis gelöscht“. Ausländerfeindliche Anschläge prägten die 1990er Jahre (siehe auch S. 13). Ein rechter Mob bedeutete den Eingewanderten unmissverständlich, verzichtbare Menschen zu sein, die Erzählerin ergo ein verzichtbares Kind. In Solingen töteten Rechtsextremisten 1993 fünf Menschen durch einen Brandanschlag; es waren die Vorboten rechtsextremistischen Terrors gegen Migranten und Juden, gegen die, die als Fremde wahrgenommen und stigmatisiert werden, zuletzt die Anschläge in Halle und Hanau.

Kiyak selbst erlebte, dass die Mehrheitsgesellschaft von den Gastarbeiterkindern erwartete, zu bleiben, „wer und wo man ist“, sie sollten es bloß keinen Schritt weiterbringen. Ihre sich plackenden Eltern erduldeten die Demütigung, als brauchbare, aber zugleich lästige Gäste behandelt zu werden. Ihre Kinder jedoch sollten es einmal besser haben. In Kiyaks Familie gab es deshalb ein anderes Narrativ: „Hauptsache, keine Fabrikarbeiterin oder Putzfrau. Das Putzfrausein ist der Referenzpunkt für alles.“ Die Nachkommen der Gastarbeiter hatten geradezu „die Anweisung, die Lebenswelt ihrer Eltern zu verlassen“. Kiyak gehörte zur ersten Generation, die mit den Deutschen zur Schule gehen durfte und es auf die Universitäten schaffte. Die Gastarbeiterkinder vollbrachten „eine stille Revolution“, sagt sie. Sie integrierten sich, obwohl Deutschland sich bis heute nicht als Einwanderungsland begreifen will. Es sind nicht nur die Söhne, die diesen Sprung schaffen, sondern auch Töchter wie Mely Kiyak. „Der Aufstieg der Gastarbeitertöchter“, sagt sie, verwandelte die elterlichen Strapazen in Erfolg. Im Elternhaus lebten nun Arbeiter und Akademiker unter einem Dach, die Erzählerin, wurde zum „außerordentlichen Familienmitglied“. Sie hatte in der Küche nichts mehr zu suchen, war sie doch für Höheres bestimmt: „Pril und Spülbecken übersprungen“, so Kiyak trocken. Sie ist die Spülmaschinengeneration. Wenn ihre Tante sagte, sie sei jetzt keine von ihnen mehr, war das nicht als Ausgrenzung, sondern als Kompliment gemeint.

Wer in Deutschland etwas werden will, das hat auch die Debatte um Thilo Sarrazins rassistisches Buch Deutschland schafft sich ab gezeigt, sollte nach Ansicht vieler gefälligst die Attribute der Deutschen annehmen. Sarrazins These, dass Türken bildungsresistent, aber zugleich vermehrungsfreudig seien, machte den Auftakt für Pegida und AfD. Unterschiede und Anderssein werden hierzulande allzu oft als bedrohlich wahrgenommen. Die Ablehnung angeblich Fremder ist nichts als die Abwehr, über das Eigene kritisch zu reflektieren.

Die Aufsteigertochter

Kiyaks Vater, über dessen Krebstod die Tochter 2013 liebevoll in ihrem Buch Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an schrieb, förderte seine Kinder durch Ermutigung. Seine Aufsteigertochter kämpfte als junge Frau jedoch ebenso darum, sich aus dem Erwartungsdruck und der starken emotionalen Bindung zur Familie zu befreien. Sie bewarb sich zum Studium am Literaturinstitut Leipzig. Beim Bewerbungsgespräch wollte sie „mit allem, was ich war, mit meinem Geschlecht, meinen Erfahrungen, meinem Elternhaus, unsichtbar bleiben“, erinnert sie sich. „Der Kraftakt, vorhandene Unterschiede unbedingt negieren zu wollen, führt dazu, dass man zu einer schlechteren Version seiner selbst wird. Dass man als Vertreterin einer Gruppe wahrgenommen und einsortiert wird, fühlt sich in dem Moment, in dem man es bemerkt, an, als würde man unter Steinhaufen begraben.“

Es kostet enorme Anstrengung, sich nicht dem Mehrheitswillen durch Assimilation zu beugen — mit der Gesellschaft zu verschmelzen und nicht aufzufallen —, sondern die Spannungen zu ertragen, die Unterschiede ausmachen, und diese als Fragmente des Daseins zu integrieren.

Kiyaks zweiter Erzählstrang handelt vom Frauwerden — wie das Kind zum Mädchen wird und seinen Körper entdeckt. Der Teenager flirtet im Türkeiurlaub mit dem Toastverkäufer, obwohl er als potenzieller Bräutigam so gar nicht ins „kolossal effendihafte“ Beuteschema ihrer Tanten passt. Die Autorin berichtet offen, dass sie sich in ihrer ersten Liebe für ihre Herkunft, Familie und ihren Körper genierte. Heiraten, das wollte Mely Kiyak schon als Kind nicht. Vielmehr fragt sie sich auch als Erwachsene, welches Frauenleben sie eigentlich führen wolle. Eine „Zweisamkeitsfrau“ will sie nie sein, betont sie, sehe sie in ihrer Umgebung doch so viele traurige Frauen, die „ihre unverwirklichten Träume übertragen … auf die nächste Generation“.

Von diesen elterlichen Aufträgen und Projektionen konnte Kiyak sich lösen. Sie macht deutlich, dass sie sich anders als ihre Mutter durch Schule und Studium von gesellschaftlicher Unterdrückung befreien konnte. Sie grenzte sich in Liebe von ihrer Familie ab, ohne deren Biografie zu negieren oder ihre eigene Herkunft abzuspalten.

In ihrem Essay gibt es noch einen dritten Erzählstrang: die Bedeutung von Sprache, das Schreiben. Innerhalb ihrer eigenen Familie habe man nie die gleiche Sprache gesprochen, sagt Kiyak, sondern man habe sich „mit gebrochenem Wortschatz“ unterhalten. Die Autorin greift auch diese Brüche auf. Sie löste sich von den einstudierten Vorbildern anderer Autorinnen und Autoren und entwickelte ihre eigene Sprache als Ich-Erzählerin und politische Kommentatorin. Sie wurde sie selbst, nicht eine schlechtere Version dessen, was die Außenwelt von ihr als Vertreterin einer Bevölkerungsgruppe erwartete.

Ihr kluges Buch, mit großer Kraft, viel Humor und einer Portion Melancholie erzählt, zeigt, wie sie sich die verschiedenen Fragmente ihrer Biografie nach und nach aneignete. Es ist eine Selbstintegration als Mensch, nicht als Gastarbeiterkind. Kiyak begriff, dass sie nicht wegen ihrer Herkunft zu einer Art Außenseiterin wurde, sondern aufgrund ihrer Persönlichkeit. In der Soziologie nennt man solche Randfiguren „marginal people“ – Menschen, die sich nicht in der Mitte der Gesellschaft bewegen, sondern an deren Rändern, weshalb sie besonders gut Perspektivwechsel vornehmen und zwischen sehr unterschiedlichen, auch verfeindeten Gruppen vermitteln können.

Dass Brüche in Biografien normal, ja fast wünschenswert sind, wird in diesem beeindruckenden Text deutlich. Es geht hier nicht nur ums „Frausein“, sondern ums Menschsein — eine Hommage an die Würde eines jeden Menschen, gleichgültig welcher Herkunft.

Info

Frausein Mely Kiyak Hanser 2020, 128 S., 18 €

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