Regierung auf Abruf

Israel Hunderttausende protestieren gegen den „Crime Minister“ Benjamin Netanjahu
Ausgabe 42/2020
Auch Protest mit Maske ist in Israel derzeit nicht gern gesehen
Auch Protest mit Maske ist in Israel derzeit nicht gern gesehen

Foto: Jack Guez/AFP/Getty Images

Kochav Shachar sagt, sie sei derzeit Vollzeitaktivistin. Seit Juni nimmt die 22-jährige Arabisch-Studentin aus Tel Aviv zuweilen viermal in der Woche an Demonstrationen gegen ihre Regierung teil. Vergangenen Samstag verschafften annähernd 200.000 Menschen ihrem Ärger Luft. Sie protestierten gegen ihren „Crime Minister“, gegen Ministerpräsident Netanjahu, angeklagt wegen Korruption, und werfen ihm Missmanagement in der Covid-19-Krise vor. Ein häufiger Slogan lautet: „Lech“, hebräisch für „Geh“.

„Kochi“, so Shachars Spitzname, zählt zur Minderheit jener Aktivisten, für die Netanjahus Demission allein kein Fortschritt wäre. Ihr geht es vielmehr um die politischen und ökonomischen Kräfte, die ihn an der Macht halten. Sie und ihre Mitstreiterinnen wollen deshalb unterschiedliche Anliegen verbinden und zum Diskurs über die israelische Demokratie anregen. Sie setzen sich für Menschenrechte ein und sind gegen die Besatzung in den palästinensischen Gebieten, gegen Rassismus und strukturelle Gewalt: „Wir müssen das System verändern und solidarischer werden“, ist Kochi überzeugt. „Bei uns herrscht Hass, nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern, ebenso zwischen Rechten und Linken, Säkularen und Religiösen.“ Sie engagiert sich für Randgruppen, besonders die arabische Bevölkerung innerhalb Israels, aber auch die Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen. Außerdem unterstützt sie die Bewegung „Kultur der Solidarität“, um in der Pandemie-Zeit jene zu versorgen, die arm, einsam und krank sind.

Sexuell belästigt

Israels Covid-Infektionszahlen gehören derzeit zu den höchsten weltweit. Die Regierung verhängte kürzlich einen zweiten Lockdown, mit verheerenden Folgen wie einer Arbeitslosenquote, die mittlerweile bei zwölf Prozent liegt und vorrangig junge Israelis und Frauen trifft. Häusliche Gewalt ist weitverbreitet und endet wegen der hohen Verbreitung von Kleinwaffen oft mit Mord. Die Opfer sind vorwiegend Frauen aus Neueinwanderergruppen und Palästinenserinnen, deren Communities der Staat chronisch vernachlässigt. Im August sorgte die Vergewaltigung einer 16-Jährigen für Schlagzeilen. Auch Kochi wurde während einer Demonstration von Polizisten sexuell belästigt. Die Sicherheitskräfte, jahrzehntelang darauf trainiert, gegen palästinensische Aufständische äußerst brutal vorzugehen, neigen dazu, den zumeist völlig friedlichen Protest hart anzugehen und Angriffe sowie Sexismus durch Gegendemonstranten zu tolerieren.

Ende September erließ die Regierung neue Corona-Bestimmungen. Nun dürfen maximal 20 Personen gemeinsam demonstrieren, und dies höchstens einen Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, Proteste vor Netanjahus Residenz sind untersagt. Derartige Auflagen treiben die Bürger im ganzen Land erst recht auf die Straße. Dabei stellen sich gerade Frauen kreativ und selbstbewusst gegen den Chauvinismus einer militarisierten Gesellschaft und verlangen ein Mitspracherecht auf allen Entscheidungsebenen. „Bo-ie“, „Komm“, lautet einer ihrer Slogans. Sie wollen, dass endlich eine Politikerin das Land führt und eine Koalitionsregierung abdankt, die überwiegend aus Ex-Militärs und Ultrareligiösen besteht. Vor allem Feministinnen werfen diesem Kabinett vor, die Belange von Frauen sträflich zu vernachlässigen, ganz besonders in der Pandemie.

Die Koalitionäre sind fast nur noch damit beschäftigt, sich zu misstrauen und gegenseitig zu blockieren. Viele, die Benny Gantz von Kahol Lavan gewählt haben, sind enttäuscht, dass er erst sein Versprechen brach, mit Netanjahu keine Regierung zu bilden, und dann in der Koalition noch nicht einmal richtig Widerstand leistet. Und dem Premier ist jedes Mittel recht, sich an der Macht zu halten und eine Gefängnisstrafe zu verhindern; sein Strafverfahren wird Anfang 2021 fortgesetzt. Er will zudem ausschließen, dass Gantz nächstes Jahr die Regierungsgeschäfte übernimmt. Kaum einer glaubt noch, dass es je dazu kommt, vielmehr rechnet man mit einer baldigen Auflösung des Parlaments. Sollten die Regierungspartner sich bis Weihnachten nicht auf einen Haushaltsplan einigen, würde das zu Neuwahlen führen – den vierten seit April 2019.

Interne Angelegenheit?

Sowohl Likud als auch Kahol Lavan verlieren derzeit an Wählergunst, während die Partei Yamina unter Verteidigungsminister Naftali Bennett stetig aufholt. Dieser gilt als Vertreter der Siedlungsbewegung und neoliberaler Hardliner. Sollte Bennett Israel künftig regieren, wäre das – so der Journalist Gideon Levy – ein Albtraum, „die Erfüllung der nationalreligiösen Revolution“.

Auch Yanal Jabarin demonstrierte am Wochenende vor seiner Studentenunterkunft in Jerusalem. „Ich will, dass wir frei und gleichberechtigt hier leben können“, sagt der 23-jährige Palästinenser aus Umm al-Fahm. Auf seiner Corona-Schutzmaske steht: „Wir haben diese losgelöste Regierung satt“. Yanal zählt zu den wenigen der 1,9 Millionen palästinensischen Bürger, die sich den Demonstrationen anschließen. Die meisten Palästinenser hegen für diesen Protest zwar Sympathie, fühlen sich jedoch nicht ausreichend einbezogen und betrachten das Ganze als interne Angelegenheit der jüdischen Mehrheit. Tatsächlich glauben viele Demonstranten, mit dem Ende der Netanjahu-Ära wäre Israels Demokratie gerettet. Die meisten wollen nicht, dass die Vereinigte Liste, eine überwiegend arabische Wahlallianz, die in der Knesset 15 Sitze hält und von Ayman Odeh geführt wird, eine nächste Regierungskoalition mittragen könnte.

Es ärgert den palästinensischen Journalisten und Filmemacher Rami Younis, dass manche Linke den Palästinensern ihre Enthaltung vorwerfen: „Wir lassen uns nicht für ihre Machtspiele vor den Karren spannen“, sagt der 35-jährige Aktivist in Haifa und kritisiert, dass zu wenig gegen strukturellen Rassismus unternommen werde. Tatsächlich leben viele jüdische Bürger mit europäischen Wurzeln vergleichsweise so privilegiert, dass strukturelle Diskriminierung und Gewalt für sie kein Thema sind. Kochi will auch dagegen weiter demonstrieren.

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