Schöner lügen

Literatur Eshkol Nevo spielt in „Die Wahrheit ist“ mit dem eigenen Leben: Was ist hier wahr, was Fake?
Ausgabe 24/2020
Wie viele Wahrheiten gibt es? Fragte der Kranich und lachte
Wie viele Wahrheiten gibt es? Fragte der Kranich und lachte

Collage: der Freitag, Material: AFP/Getty Images

Gibt es in einer Welt so unterschiedlicher Kontexte und Perspektiven die Wahrheit? Wo verläuft die Grenze zwischen Fakt und Fiktion? Das sind uralte Fragen, auf die Eshkol Nevo originell eingeht. Sein neuer Roman ist das Ergebnis einer gemeinen Schreibblockade. Der israelische Erfolgsautor fand aus seiner Lähmung, indem er endlich die Fragen seiner Leser beantwortete, manche darunter fast intim. Nur durchs Schreiben, so erklärt er, könne er sich vom Ballast schmerzhafter Erinnerungen lösen, wie ein Fluggast vom Übergepäck. Aus der Beantwortung der Leserfragen entstand fast wie von selbst ein „sehr ehrliches, sehr offenes Buch“, so der Autor. Der 48-Jährige ist darin sein eigener Protagonist. Dieser leidet unter einer „schmorenden Missstimmung“, weil seine Frau und Tochter sich von ihm entfremdet haben und einer seiner besten Freunde an Krebs stirbt. Nevo schreibt seinen Lesern wie guten alten Freunden. Entwaffnend aufrichtig berichtet er von einem Seitensprung auf Lesereise in Kolumbien und seiner Frau, die sich trennen will, seinem Liebeskummer, der Werbetexterei für einen korrupten Emporkömmling in der Politik, über seine Gedanken und Gefühle.

Bewusst entlässt der ausgebildete Psychologe seine Leser nicht aus der Ambivalenz. Er verführt sie mit Figuren und Geschichten, die zwischen wahr und erfunden changieren, füttert sie mit autobiografischen Fetzen und Erfindungen, mit Anekdoten, die für sich eine neue Wahrheit zu schaffen scheinen, aber nicht immer der Realität entsprechen. Es ist auch eine fabelhafte Anleitung zum Schreiben – das lehrt der Autor in Israel tatsächlich. Er nennt sich einen „professionellen Wahrheitsverdreher“.

Träumen erlaubt

Im Roman fühlt seine eigene Frau sich nicht mehr imstande, zwischen seinen Fantasien und ihrer gemeinsamen Lebenswirklichkeit zu unterscheiden. In diese Grauzone von Fakt und Fake gerät auch der Leser, der sich bei der Vielstimmigkeit einen Standpunkt aussuchen kann und glauben, was er will. Es passt ziemlich gut ins reale Zeitalter der sozialen Medien, des Populismus und Rechtsrucks.

Trotz seines fließend-leichten und witzigen Erzählstils – von Markus Lemke aus dem Hebräischen hervorragend ins Deutsche übersetzt – konfrontiert Nevo seine Leser immer wieder auch mit der harten Situation und Politik in seiner Region. Ist doch gerade der Nahostkonflikt exemplarisch für mehrere Wahrheiten, die nebeneinander existieren: Israelis und Palästinenser bewerten dieselben historische Fakten diametral entgegengesetzt. Beide empfinden sich als Opfer und den anderen als Täter. Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, sondern in beiden Narrativen gleichzeitig. Die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete bleibt derweil eine Tatsache, die Nevo kritisch kommentiert. Kritik an der israelischen Besatzungspolitik billigt er auch Außenstehenden zu, solange sie auf der Basis von Kenntnissen geäußert wird und nicht rassistisch ist.

Es sind diese Komplexitäten, die der Autor ausleuchtet. Er erzählt, wie sein Protagonist Nevo trotz seiner oppositionellen Ansichten einwilligte, in einer jüdischen Siedlung auf besetztem palästinensischem Gebiet zu lesen: „Wenn das, was ich in meinen Büchern versuche, im Wesentlichen darauf hinausläuft, zu bestreiten, dass es nur die eine Wahrheit gibt – und dem allwissenden Erzähler das Handwerk zu legen –, wie kann ich dann eine Gelegenheit ausschlagen, Menschen kennenzulernen, die so anders denken und leben als ich?“ Neugierde vor Ideologie, das treibt den Protagonisten und seinen Schöpfer.

Während der Veranstaltung sagt er seinen Zuhörern, sie seien es, die den Frieden behinderten und jede Chance auf eine normale Existenz zunichtemachten. Die andere Wahrheit, die er nicht verschweigt, ist aber auch, dass die Siedlerin, die ihn eingeladen hatte, dem allgemeinen Bild der national-religiösen Extremistin überhaupt nicht entspricht; sie lebt nicht aus ideologischen, sondern finanziellen Gründen in einer Siedlung, weil sie sich die Mieten in Israel nicht leisten kann.

Nevo, Enkel des dritten israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol, erzählt von Begegnungen mit Palästinensern und von seinen belastenden Erfahrungen als israelischer Soldat. Seine Hauptfigur liest sogar in Syrien, rein fiktiv, weil Israelis dort gar nicht erst einreisen dürften. Im Roman ist Träumen erlaubt.

Zu seinen ironischen Geschichten gehört auch die eines Holocaust-Überlebenden, der ihm auf Lesereise in einem deutschen Kaff ein amateurhaft zusammengeschustertes Monumentalwerk aufdrängt, fast 1.000 Seiten. Im Koffer ist kein Platz, also lässt er den Schinken im Hotel zurück. Doch die jüdische Gemeinde schickt ihm den Klotz hartnäckig von Ort zu Ort hinterher. Bis er am Flughafen auf der Rückreise nach Israel für den Ballast auch noch Übergepäck zahlen muss. Diese Story sorgt unter Israelis offenbar für besonderes Vergnügen. In Israel und Italien erfreut sich der Roman bereits bester Verkaufszahlen – das ist ihm auch in Deutschland zu wünschen.

Info

Die Wahrheit ist Eshkol Nevo Markus Lemke (Übers.), dtv 2020, 432 S., 22 €

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