Tod an der Fleischtheke

Literatur Es herrsche ein „Krieg der Menschen gegen die Tiere“, sagt der Ethiker Thilo Hagendorff
Ausgabe 11/2021
Obwohl der Missbrauch von Tieren moralisch nicht zu rechtfertigen sei, sei „die Tierindustrie insgesamt ein mit bürokratischer Genauigkeit organisiertes, rational geordnetes Unternehmen“, meint der Ethiker Thilo Hagendorff
Obwohl der Missbrauch von Tieren moralisch nicht zu rechtfertigen sei, sei „die Tierindustrie insgesamt ein mit bürokratischer Genauigkeit organisiertes, rational geordnetes Unternehmen“, meint der Ethiker Thilo Hagendorff

Foto: Shotshop/IMAGO

Qualvoll gezogen, transnational transportiert und im Akkord geschlachtet: Allein in Deutschland sterben mehr als 700 Millionen Tiere jährlich für den menschlichen Konsum. Ihr Leid findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und steht in keinerlei kognitivem Bezug mehr zum Fleisch an der Billigtheke. Die Verhätschelung von Haustieren ist angesichts der globalen Tierindustrie schizophren. Belegt doch gerade die Haustierhaltung die selektive Wahrnehmung moderner Gesellschaften, die bestimmte Tierarten in ihre Familien integriert, aber andere in die Industrie ausgelagert haben. Seit Jahrzehnten gibt es Versuche, diese Fehlentwicklungen zu bremsen, doch weder Tierschutzgesetze noch Tierschützer oder die alternative Bewegung konnten wesentlich etwas ändern, vielmehr trägt mittlerweile auch die Biobranche teils zu diesem Missstand bei. Die grüne Bundesministerin Renate Künast leitete in ihrer Amtszeit 2001 bis 2005 eine Agrarwende ein, doch letztlich scheiterten ihre Pläne an den Lobbys.

Das nicht endende Tierelend veranlasste Thilo Hagendorff, ein Werk vorzulegen, das aufrütteln soll und zum Denken anregt. Untermauert von Fachaufsätzen aus unterschiedlichen Disziplinen weist der Sozialwissenschaftler detailgenau nach, wie gewaltförmig das Verhältnis der Menschen zum Tier ist, angefangen mit den Qualzuchten bis zu den oft sadistischen Methoden in den Schlachthöfen, die er als praktisch rechtsfreie Räume bezeichnet. Sein Fazit: „Es herrscht, metaphorisch gesprochen, ein Krieg der Menschen gegen die Tiere.“ Dieser Krieg sei selbstzerstörerisch, da er die Grundlagen des Lebens für alle Lebewesen vernichte. Covid-19, so spekuliert der Ethiker, sei noch harmlos gegen die Viren, die eines Tages aus tierindustriellen Haltungssystemen dringen könnten.

Anhand der Psychologie erklärt Hagendorff, was Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten dazu verleitet, sich an Unrecht zu beteiligen und es von sich abzuspalten. Fische zählen für ihn zu den besonders „vergessenen Opfern“. Obwohl der Missbrauch von Tieren moralisch nicht zu rechtfertigen sei, sei „die Tierindustrie insgesamt ein mit bürokratischer Genauigkeit organisiertes, rational geordnetes Unternehmen“. Um das Tiermorden aufrechtzuerhalten, bedürfe es aber massiver „Verdrängungs-, Selbstbetrugs- und Distanzierungsmechanismen“, ähnlich jeder anderen Form von Krieg. Hagendorffs These lautet, dass gesellschaftlicher Frieden erst erreicht werden könne, wenn die Menschen die tief sitzende Norm des Fleischkonsums radikal infrage stellten, ihre Gewohnheiten änderten und Tieren achtsamer begegneten. Für ihn ist der Veganismus eine mutige Form des Non-Konformismus, wobei er die gesellschaftliche Ächtung von Veganern ein wenig übertrieben darstellt.

Was hilft dem Huhn?

Der Diskurs, den Hagendorff dankenswerterweise anregt, ist zwar mitnichten neu, wird er doch seit Langem im In- und Ausland mit verschiedenen Schwerpunkten kontrovers geführt. Das Besondere an seinem Buch ist aber, dass er philosophische, ethische, soziologische und politische Fragestellungen in Bezug zueinander bringt. Das ist angesichts so komplexer Zusammenhänge sinnvoll und anregend, birgt allerdings die Gefahr, so manchen Leser zu den falschen Schlussfolgerungen zu verleiten. Der Autor vertritt die Ansicht, dass ein respektvollerer Umgang mit Tieren auch zu einem besseren Verhalten der Menschen untereinander führe. In Hinblick auf Individuen besteht hier aber keine Zwangsläufigkeit, denn misanthrophische Tierliebhaber, rassistische Tierschützer wie auch, andersherum, Arbeiter im Schlachthof, die zu Hause Hund und Frau hätscheln, sind keine Seltenheit.

„Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionen, Sprache oder Selbstbewusstsein bei Tieren macht deutlich, dass Tiere reicher an Fähigkeiten und Fertigkeiten sind, als üblicherweise angenommen wird – und dass nicht-menschliche den menschlichen Tieren sehr ähneln. Diese Erkenntnisse machen es denkbar und möglich, die Grenze zwischen Tier und Mensch aufzulösen und stattdessen lediglich von graduellen Unterschieden in den kognitiven und körperlichen Fähigkeiten der verschiedenen Spezies auszugehen“, sagt Hagendorff, und er fordert das Ende des Anthropozentrismus. Auch wenn dem im Grundsatz zustimmen ist, so muss man doch fragen, wie zielführend es ist, die Grenze zwischen Menschen und Tieren aufzulösen, schließlich bleiben die Unterschiede enorm. Es ist in diesem wichtigen Diskurs indessen auch umstritten, den Speziesismus auf dieselbe Stufe wie den Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus zu stellen. Denn jedes Phänomen für sich genommen ist so komplex, dass eine Vermischung rasch zu Verzerrungen und Vereinfachungen führen kann. Wenn die Legehenne mit dem KZ-Häftling gleichgesetzt wird, verharmlost das den Holocaust – und dem Huhn ist damit nicht geholfen.

Info

Was sich am Fleisch entscheidet: Über die politische Bedeutung von Tieren Thilo Hagendorff Büchner-Verlag 2021, 300 S., 18 €

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