Die Fernsehübertragung der Deutschlandtournee von Roger Waters, der Vortrag der Pulitzer-Preisträgerin Alice Walker – reihenweise werden in jüngster Zeit kulturelle Veranstaltungen, Nahost-Tagungen sowie Vorträge abgesagt. Es heißt, die Ausgeladenen unterstützten die palästinensisch-internationale Bewegung „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS). Deren Kritiker behaupten, diese Kampagne sei antisemitisch und wolle Israel zerstören. Mitunter langt zur pauschalen Verurteilung bereits die bloße Assoziierung mit dem BDS-Umfeld.
In München, Frankfurt und Berlin arbeiten Fraktionen von der CSU bis zu den Grünen daran, BDS-nahen Gruppen oder Veranstaltern die Zuschüsse zu entziehen und keine städtischen Räume mehr zur Verfügung zu stellen. In München ist diese Praxis sogar ohne Beschluss des Stadtrates schon in Kraft. Die Kölner Deutsch-Israelische Gesellschaft verfolgt dasselbe Ziel.
In Europa, den USA, ganz besonders aber in Israel selbst, breitet sich spiegelbildlich zu BDS die Gegenkampagne aus – unter anderem vorangetrieben vom American Jewish Committee und der israelischen Regierung, die dafür die Chicagoer Anwaltsfirma Sidley Austin engagiert hat. In der texanischen Kleinstadt Dickinson mussten Einwohner, die nach Hurrikan Harvey entschädigt werden wollten, groteskerweise zunächst schriftlich zustimmen, Israel nicht zu boykottieren – ein Land, von dem viele vermutlich kaum je gehört hatten. Am 7. Januar veröffentlichte das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten die lang erwartete Blacklist von BDS-Gruppen, denen die Einreise nach Israel verweigert wird – darunter die Jewish Voice for Peace (die US-amerikanische, liberale Gegenbewegung zum American Israel Public Affairs Committee AIPAC, siehe Text rechts), der deutsche Zweig der BDS-Kampagne und die britische Palestine Solidarity Campaign, deren ehemaliger Vorsitzender und heutiger Schirmherr Labour-Chef Jeremy Corbyn ist.
Worum geht es eigentlich? BDS wurde 2005 von palästinensischen Zivilorganisationen als gewaltfrei angelegte Bewegung gegründet. Angesichts der schon lange normalisierten israelischen Besatzung und nach zu vielen gescheiterten Nahostverhandlungen suchten sie andere Wege, um ihrem Selbstbestimmungsrecht Geltung zu verschaffen. Nach dem Vorbild der südafrikanischen Antiapartheidbewegung zielt BDS auf israelische Firmen und Institutionen, die die Besatzung unterstützen. Produkte aus jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten sollen vom Markt genommen oder gekennzeichnet werden. Der wirtschaftliche Druck soll die israelische Regierung zwingen, internationales Recht zu respektieren. BDS besteht mittlerweile aus einem lose koordinierten, internationalen Netzwerk von Individuen und Gruppen, die mangels strikter Satzungen oder Konsensbeschlüsse und je nach biografischer und politischer Perspektive manchmal unterschiedliche Positionen beziehen – teils differenziert, kompromissbereit und friedfertig, teils polarisierend und weit über das Ziel hinausschießend. So gibt es auch BDS-Kreise, die alles, was israelisch ist – selbst Israelis, die sich deutlich gegen die Besatzung positionieren –, boykottieren.
Krude Spaltungsversuche
Auf seiner Website spricht sich BDS gegen Rassismus, Diskriminierung, Antisemitismus und Muslimfeindschaft aus. Gleichwohl finden sich bei BDS auch Antisemiten, die dankbar jede sich bietende Gelegenheit nutzen, ihre antijüdischen Ressentiments auszuleben. Der Nahe Osten war schon immer eine perfekte Projektionsfläche für krude Spaltungsversuche und nicht bearbeitete Vergangenheitsprobleme. Stereotype, Vorurteile, Ängste und Idealisierung anstelle nüchterner Informationen verleiten rasch zu emotional aufgeladenen Meinungen, die an der Realität und den Betroffenen völlig vorbeigehen.
Auch viele israelische und jüdische Intellektuelle befürworten oder tolerieren BDS. Sie sind der Ansicht, nur noch Sanktionen könnten Palästinenser und Israelis vor weiteren destruktiven Entwicklungen retten. Sie glauben, Veränderung könne erst eintreten, wenn der wirtschaftliche Preis für die Besatzung zu hoch geworden sei. Das vom BDS geforderte Recht auf Rückkehr der Palästinenser in ihre ehemalige Heimat, heute Israel, setzen israelische Befürworter keineswegs mit der Zerstörung ihres Landes gleich; sie nehmen allerdings in Kauf, auf den explizit jüdischen Charakter ihres Staates zu verzichten, um in einer Demokratie westlichen Vorbilds zu leben, die allen Bürgern die gleichen Rechte zugesteht. Das Rückkehrrecht ist keine von BDS „erfundene“ Forderung, sondern war stets Gegenstand internationaler Nahostverhandlungen. Dabei ging niemand davon aus, dass alle Palästinenser physisch aus der Diaspora heimkehren würden.
Gewollt oder ungewollt hat BDS zur Polarisierung beigetragen – ohne die Lage der Palästinenser verbessert zu haben. Ganz im Gegenteil, die Bewegung bietet der nationalreligiösen Regierung unter Netanjahu den willkommenen Vorwand, noch härter gegen deren Interessen vorzugehen, den Siedlungsbau voranzutreiben und die eigene Opposition zu bekämpfen. Man muss BDS nun aber wahrlich nicht befürworten, um sich zu fragen, warum ein konstruktiver Diskurs über die politischen Ursachen, über Sinn oder Unsinn dieser Bewegung unterdrückt wird, und zwar in einem Maße, dass sogar die notwendige Unterscheidung zwischen legitimer und antisemitischer Kritik keinen Raum mehr findet.
Boykott ist zunächst ein politisches Instrument. BDS pauschal als antisemitisch zu dämonisieren, delegitimiert den politischen Akt und lenkt von berechtigter Kritik an Israels Besatzungspolitik ab. Das bedeutet jedoch nicht, dass Bewegungen wie BDS und andere nicht die Verpflichtung hätten, Antisemiten in den eigenen Reihen zu erkennen und zu isolieren.
Das Wort Antisemitismus ist mittlerweile derartig assoziativ aufgeladen, dass Differenzierung kaum noch eine Rolle spielt. Zur Erinnerung: Ein Antisemit ist jemand, der Juden deshalb verabscheut, weil sie Juden sind. Genauer gesagt, er lehnt ab, was er in seiner Fantasie für Juden hält, ein Stereotyp. Richtet sich BDS nun gegen Juden, weil es Juden sind, oder gegen Israelis, weil deren Mehrheit an der Besatzung festhält?
Die gegenwärtigen Antisemitismus-Beschuldigungen wirken mitunter fast hysterisch, was verwundert, da aktuelle Untersuchungen ein massives Ansteigen von Judenhass nicht bestätigen. Doch allein der Vorwurf schürt Ängste – vor Abstrafung bei den Kritikern israelischer Politik einerseits und vielen Juden andererseits. Gerade Menschen, die vom Holocaust betroffen waren und deren Nachkommen transgenerationell von ihm betroffen bleiben, reagieren in Zeiten des Rechtsrucks verständlicherweise empfindlich auf alles, was nach Antisemitismus aussieht. Anstatt deren Ängste und Traumatisierungen politisch zu instrumentalisieren, gilt es jedoch, in jedem Fall nüchtern zu analysieren, worum es wirklich geht, denn Antisemitismus kann nur erfolgreich bekämpft werden, wenn er präzise identifiziert wird.
Die Debatte über die BDS-Kampagne, Israel und Antisemitismus zeigt eine Verwirrung der Begriffe. Es sind nicht alle Juden Israelis und nicht alle Israelis Juden. Ebenso wenig wie alle Juden Zionisten sind oder umgekehrt. Wer weiß hierzulande schon, dass es unter Zionisten ein breites Spektrum von Kompromissbereiten wie Amos Oz bis zu den rassistischen Verfechtern eines Groß-Israels gibt? Wer kennt den Unterschied zwischen Nicht-Zionisten und Antizionisten? Während erstere den Zionismus aufgrund seiner historischen Wurzeln nicht bekämpfen, lehnen Antizionisten ihn als national orientiertes Projekt zulasten einer anderen Bevölkerung insgesamt ab. Auch fundamentalistische Evangelikale betrachten sich als Zionisten, wobei es ihnen ums Heilige Land und keinen Deut um Juden oder gar deren Sicherheit geht. Wieso müssen sich viele Juden, die sich mit dem Zionismus oder dem Staat Israel nicht identifizieren, so häufig als selbsthassende Juden beschimpfen lassen, obwohl sie sich, religiös oder atheistisch, zu ihrer Identität als Juden bekennen? Ist das Judentum überhaupt mit Israel identisch, wie das allenthalben suggeriert und Netanjahu zu betonen nicht müde wird? Wer hört auf die vielen Juden, die sich gegen diese Vereinnahmung verwahren?
Frauenfeindliche Horden
Eine solche Entwicklung ist freilich nicht von heute auf morgen entstanden. Sie geht zurück bis zur Regierung Bush: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die islamische Welt ein willkommenes neues Feindbild. Der Terrorangriff auf die Twin Towers 9/11 galt als vermeintlicher Beweis, gegen die Muslime in Irak und Afghanistan ins Feld ziehen zu müssen. Spätestens ab Mitte 2000 entspann sich auch in Deutschland ein zunehmend hemmungsloser muslimfeindlicher Diskurs, getragen von rechts bis links. Die Antideutschen Linken etwa mit ihrem dichotomen, krausen Weltbild dämonisieren Muslime und verherrlichen Israel; so manche Alt-Linke wie Alice Schwarzer oder auch manche Grüne inklusive Vertretern der Grünen Jugend sehen in Israel die westliche Brandmauer gegen die angeblich durchgängig frauenfeindlichen und rückwärtsgewandten Horden aus dem „Orient“, die das fortschrittliche Europa ins Mittelalter zurückbefördern wollen.
Mit Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab (2010) brachen die Dämme. Ein SPD-Mann war es, der Muslime rassistisch verunglimpfte, während er Juden als besonders intelligent hervorhob. Es dauerte nicht lange, da beschworen konservative Politiker das „christlich-jüdische Abendland“ und eine „Leitkultur“. Das ist Geschichtsverdrehung: Haben doch gerade die Deutschen unter Beteiligung der Kirchen Juden und jüdisches Leben in Europa gänzlich zu zerstören versucht!
Häufig verbergen sich hinter kritiklosen Haltungen gegenüber Juden, Israelis oder Israel Schuldgefühle und Scham über die Nazi-Vergangenheit, besonders die Schuld von Angehörigen, deren Rolle in den meisten deutschen Familien bis heute geleugnet wird. Idealisierung beruht auf massiver Verdrängung. Somit ist auch eine Überhöhung alles Jüdischen oder Israels, das als Synonym für das Judentum schlechthin missverstanden wird, die Kehrseite von Antisemitismus: Philosemitismus.
Gerade den Rechten passen der terminologische Nebel und die Anti-BDS-Kampagne ordentlich ins Konzept. Überdeckt doch der allzu rasch herausgeschriene Antisemitismus-Vorwurf die eigentlichen Antisemiten, Israel-Feinde und Rassisten in den guten Stuben, Salons und Kneipen. Schamlos missbrauchen Trump, AfD und Co. Juden für ihre Propaganda gegen Muslime mit dem Ziel, sich nationalistisch abzuschotten. Die israelischen Nationalreligiösen wirken an dieser destruktiven Dynamik mit.
Rassismus, Exklusion und antidemokratische Bewegungen gewinnen immer weiter an Einfluss. Es geht in dieser Debatte nicht allein um Israel, Palästina und den Nahen Osten, sondern um den Erhalt Europas und den Frieden in der Welt. Jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist ein Angriff auf die Demokratie. Deshalb dürfen Minderheiten, ehemalige oder aktuelle Opfergruppen nicht gegeneinander ausgespielt und politisch missbraucht werden – oder sich missbrauchen lassen.
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