„Wir müssen viel über diese Zeit erzählen“

Interview Für die Holocaust-Überlebende Anna Ornstein ist Erinnerung eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft

Anna Ornstein, geborene Brünn, kam 1927 in Ungarn zur Welt. 1944 wurde sie mit ihren Eltern und ihrer 96-jährigen Großmutter nach Auschwitz deportiert. Ihre Brüder waren bereits in Arbeitslager verschleppt worden. Die Nazis deportierten sie mit ihrer Mutter ins Konzentrationslager Plaszow nahe Krakau weiter, wo sie im Steinbruch arbeiten mussten. Im Herbst wurden sie über Auschwitz in ein Arbeitslager in der damaligen Tschechoslowakei gebracht und dort am 8. Mai 1945 befreit. Anna Ornstein wanderte 1954 mit ihrem Mann Paul in die USA aus. Die Mutter dreier Kinder und vielfache Großmutter wurde als Ärztin, Psychiaterin, Kinderpsychiaterin und Psychoanalytikerin bekannt und lebt in Boston. Ende 2018 erlitt sie einen schweren Schlaganfall, doch sie erkämpfte sich ihre Eloquenz zurück. Nur mit ihrem Deutsch und Ungarisch klappe es nicht mehr so gut, so die 93-Jährige. Geschichten aus ihrer Vergangenheit sind für sie „wie Gedenkstätten, die ich in den Köpfen unserer Kinder errichtete.“

Frau Ornstein, wo waren Sie am 8. Mai 1945?

Meine Mutter und ich waren im Frauenarbeitslager Parschnitz in der Tschechoslowakei, einem der KZ-Außenlager von Groß-Rosen. Wir begriffen nicht, was los war. Am Vortag hatte man uns schon nicht zur Arbeit gerufen, es gab nichts zu essen. Am 8. Mai verschliefen wir, völlig erschöpft von der Zwangsarbeit. Der übliche Weckruf vor Sonnenaufgang war ausgeblieben. Es herrschte eine merkwürdige Stille. Als klar war, dass die Nazis gerade abzogen waren, brach im Lager Chaos aus.

Wie ging es dann weiter?

Ein russischer Soldat kam auf einem Motorrad vorbei und sagte, dass wir befreit seien, er uns aber keinerlei Hilfe anbieten könne. Wir waren vollkommen auf uns gestellt und in Panik, hungrig und orientierungslos. Wir hatten die Deutschen überlebt, nun aber war die Situation so schwierig, dass wir nicht wussten, ob wir unsere Befreiung überleben würden. Paradoxerweise hatten wir vor unseren Befreiern Angst, denn wir fürchteten, von Russen vergewaltigt zu werden. Ich war damals 18 Jahre alt, und außer meiner Mutter und mir hatte niemand aus meiner engeren Familie überlebt. Doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wie haben sie sich dann aus dieser Situation helfen können?

Tschechische Bürger haben uns mit Kartoffeln ausgeholfen. Nach einer Woche sorgte meine Mutter dafür, dass wir Ungarinnen uns zu Fuß nach Hause aufmachten. Irgendwann auf dieser beschwerlichen Wanderung lasen uns jugoslawische Partisanen auf und nahmen uns bis Budapest im Zug mit. Wir fanden meine Tante, die überlebt hatte. Doch als sie uns die Tür öffnete, sah ich an ihrem Blick, dass sie schlechte Nachrichten hatte: Mein Vater und meine Großmutter waren in Auschwitz vergast, meine beiden Brüder durch Arbeit ermordet worden. Der Tag der Befreiung gilt als ein großes Ereignis, für uns aber war er erstmal eine schrecklich schwierige Situation. Ohne die Kraft und Bestimmtheit meiner Mutter hätte ich all das nicht überlebt.

Haben sich Ihre Erinnerungen an die NS-Zeit in den vergangenen 75 Jahren verändert?

Der Prozess der Erinnerung ist eine erstaunliche Leistung der Psyche, das Hirn passt sich an den Situationen an. Natürlich habe ich viel vergessen, aber es gibt Erlebnisse, an die ich mich glasklar erinnere. So etwa die Nacht, in der ich als 17-Jährige mit meinen Eltern nach Auschwitz deportiert wurde. Ich saß zwischen ihnen in einem Waggon des Güterzugs. Wir hielten einander fest, und ich dachte, dass wir vielleicht doch überleben könnten, so als wäre all das, was ich dazu bräuchte, meine Eltern. Bei der Ankunft in Auschwitz hielt meine Mutter mich ganz fest bei der Hand, als mein Vater von uns getrennt wurde.

Es sind gerade die traumatischen Erlebnisse, die sich in der Erinnerung festsetzen. An andere Dinge habe ich mich teils erst später erinnert, wenn es dafür auslösende Momente gab. Ich erinnerte mich zum Beispiel vage daran, dass wir uns in Auschwitz oft an einer bestimmten Stelle versammeln mussten. Viele Jahre später sah ich ein Gemälde mit Geranien, und plötzlich erinnerte ich mich daran, dass dies der Sammelplatz vor der Gaskammer gewesen war. Die Nazis hatten sie mit Geranien als Badezimmer kaschiert.

In vielen Familien von Überlebenden herrschte noch Jahrzehnte nach den traumatischen Erfahrungen Schweigen. Man schwieg, aber nicht wie die Mehrheit der Deutschen, die sich vor moralischer und juristischer Verurteilung schützen wollten, sondern weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, über das Erlittene zu erzählen. Wie ist das in Ihrer Familie gewesen?

Meine Mutter liebte es zu reden. Wir sind eine sehr gesprächige Familie – und bitte unterbrechen Sie mich, wenn ich mich nicht bremsen kann. Wissen und intellektuelles Denken waren bei uns großgeschrieben. Deshalb legten wir Wert darauf, Informationen zu verifizieren, die Fakten und die Wahrheit zu kennen.

Beim Seder-Essen zu Beginn des jüdischen Pessach-Festes sagte meine Tochter in den 70er Jahren einmal: „Mom, lass uns diese Zusammenkünfte thematisch noch sinnvoller gestalten.“ So fingen wir damit an, uns über die Bedeutung von Freiheit auszutauschen. Und ich begann vom 8. Mai 1945 zu erzählen. Daraus entstanden über die Jahre meine Seder-Geschichten, die ich 2004 schließlich in meinem Buch „Das Apfelgehäuse“ als meine Erinnerungen an den Holocaust zusammengefasst habe. Das Reden, Schreiben und Reflektieren und nicht zuletzt meine psychotherapeutische Ausbildung haben mir geholfen, mit meinen Erfahrungen fertig zu werden.

Gibt es heute Dinge, die in Ihnen Erinnerungen an diese Zeit wachrufen?

Heute morgen bin ich mit Beklemmung wachgeworden. Seit den Wahlen hier in den USA 2016 holen mich verstärkt wieder Erinnerungen aus meiner Jugend ein. Ich setze die heutige Zeit nicht mit der NS-Zeit gleich, aber die externen Umstände erzeugen innerlich Reaktionen, die vergleichbar sind. Die Art und Weise, wie die jetzige Administration Menschen zu Sündenböcken macht, ihre gegen Immigranten und Muslime gerichtete Rhetorik, erinnert mich an den Antisemitismus der Nazis, der die anti-jüdischen Gesetze auf den Weg brachte. Mich verstört, wie Kinder an der Grenze zu Südamerika von ihren Eltern getrennt werden, so wie es damals auch passierte. Mein politisch sehr aktiver 17-jähriger Enkel protestierte vor einiger Zeit vor Nancy Pelosis Büro, der Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus, und forderte die Politiker auf, sich mehr gegen den Klimawandel zu engagieren. Er drückt damit seine Angst aus, als junger Mensch keine Zukunft zu mehr haben, weil die Umwelt zerstört wird. Als Jude fühlt er sich auch vom Antisemitismus bedroht, insbesondere nach Ereignissen wie dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh.

Es tut mir weh zu sehen, dass mein Enkel Zeuge von Entwicklungen ist, die Teil meiner Erinnerung sind. Ich erkenne darin dieselbe existentielle Angst, die ich in Ungarn vor der Deportation durchgemacht habe. Die Vergangenheit beeinflusst unsere Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation. Unsere Erinnerung ist die Brücke zwischen damals und der Zukunft.

Sie und Ihr Mann Paul sind 1946 vor den Kommunisten in Ungarn geflohen und ausgerechnet nach Deutschland zum Studieren gegangen, weil sie nicht in Osteuropa bleiben wollten, wo es viel Antisemitismus gab, und für die USA noch keine Einwanderungsvisa bekamen. Was haben Sie dort erlebt?

Es kostete uns große Überwindung, diesen Schritt zu gehen. Wir waren entschlossen, Europa nicht ohne Ausbildung zu verlassen und nahmen dafür in Kauf, von Professoren mit Nazi-Gesinnung unterrichtet zu werden. Wir blieben unter uns in einer Gruppe jüdischer Studenten. Paul und ich wohnten zur Miete in Häusern von SS-Männern in Kriegsgefangenschaft. Eine Vermieterin versuchte bewusst, uns das Leben schwer zu machen. Nach 18 Uhr durften wir die Küche nicht mehr betreten. Doch ich kam oft sehr viel später von der Uni und durfte mir dann nicht mal Tee machen. Einmal verlor ich wegen ihrer Demütigungen fast die Fassung. Paul beruhigte mich und sagte, wir sind nur zum Studieren hier und müssen mit dieser Situation fertig werden. Wir haben aber sehr unterschiedliche Deutsche kennengelernt, nicht alle waren alte Nazis. 1954 sind wir dann in die USA ausgewandert.

Haben Sie jemals so etwas wie Hass oder Rachegefühle empfunden?

Ich war lange fast zu bereit zu vergeben. Hass richtet sich gegen einen selbst, es ist ein selbstzerstörerisches Gefühl. Ich muss aber gestehen, dass ich weniger entgegenkommend wurde, je mehr ich über das Ausmaß der Verbrechen und deren Vertuschung erfuhr. Ich ziehe es dennoch vor, nicht zu hassen, sondern die Dinge mit meinem Verstand anzugehen. Manchmal wünschte ich mir, dass ich mehr Gefühle zulassen könnte. Ich kann es bis heute nicht begreifen, warum die Deutschen uns zu Untermenschen deklarierten.

Wie lässt sich die Erinnerung aufrechterhalten, wenn es bald keine Zeitzeugen mehr gibt?

Es gibt Deutsche, die uns Überlebende als Bedrohung empfinden, weil wir sie an die Verbrechen erinnern. Mir hat eine Deutsche allen Ernstes mal gesagt, ich solle aufhören, meine Geschichte in Schulen zu erzählen, denn ich würde die Kinder traumatisieren! Dabei ist gerade Holocaust-Erziehung so wichtig, um die Erinnerung wachzuhalten. Gedenkstätten und Mahnmale allein können das nicht leisten. Wir müssen alle viel über diese Zeit erzählen.

Der AfD-Fraktionschef Alexander Gauland hat den 8. Mai gerade als ambivalenten Tag bezeichnet. Für die KZ-Insassen sei es zwar ein Tag der Befreiung gewesen, es sei aber auch ein Tag der absoluten Niederlage gewesen, der Verlust großer Teile Deutschlands und von Gestaltungsmöglichkeiten. Wir Deutschen haben wohl zu wenig aus unserer Geschichte gelernt?

Ja, Rückschritte sind überall zu verzeichnen. Es wäre entsetzlich, wenn solche Meinungen zur Mehrheit würden, dann könnten wir alle einpacken. Hass kann Gruppen langfristig nicht zusammenhalten. Wir müssen unseren Kindern eine Zukunft bieten und ihnen den Weg zu Liebe und Fürsorge weisen. Ihr Präsident Steinmeier hatte Recht, als er sagte, der 8. Mai war nicht das Ende der Befreiung, sondern der Auftrag, Freiheit und Demokratie zu verteidigen.

Das Interview führte Alexandra Senfft mit Anna Ornstein am 8. Mai telefonisch

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