Putins kalt geborene Babys

Russland Weil es Gerüchte über schmutzige Kliniken und brutale Ärzte gibt, entbinden viele Frauen lieber zu Hause
Ausgabe 45/2014
Polina Ratschinskaja, 24, hat ihr Kind ohne jede medizinische Hilfe bekommen
Polina Ratschinskaja, 24, hat ihr Kind ohne jede medizinische Hilfe bekommen

Foto: Alexandre Sladkevic

Wenn man Russland durchquert, begegnet man überall Plakaten an den Haltestellen und entlang der Straßen, wie in vielen anderen Ländern. In Russland flackert neben allerlei Produktreklame aber auch immer wieder Werbung für die Zukunft des Landes auf: „Die Familie ist unschätzbar, wenn sie vollwertig ist, wenn sie zwei oder mehr Kinder besitzt.“ Oder: „Kinder – das Familienglück! Kinder – die Zukunft des Volkes!“ Und: „Das Land braucht Ihre Rekorde!“ Gesund wirkende Menschen sind in Paradieslandschaften gesetzt und schauen von den Plakaten auf die Realität herab. Doch die kann leicht zum Horror werden. Besonders für werdende Mütter.

Die in Astrachan lebende Polina Ratschinskaja, 24, hatte sich schon vor ihrer ersten Schwangerschaft für eine Alleingeburt entschieden – für das Gebären in Eigenregie, ohne Hebamme, und vor allem: ohne jede medizinische Hilfe. Denn es kursieren in Russland fürchterliche Gerüchte über Geburtskliniken. „Es ist bekannt, dass viele Frauen dem Kaiserschnitt untergezogen werden. Ich glaube, die Ärzte wollen nur schnell fertig werden. Ich wollte aber nicht aufgeschnitten werden. Ich habe 26 Bücher gelesen und trat verschiedenen Alleingeburt-Gruppen auf VK, dem russischen Facebook, bei“, erzählt Polina. Unter dem Begriff Freebirthing gewinnt das Gebären ohne ärztliche Hilfe auch im Westen nach und nach mehr Anhängerinnen. In Russland ist es aktuell jedenfalls ein heißer Diskussionsstoff unter jungen Frauen.

Polina lächelt, wenn sie sieht, dass ihre Tochter im Schlaf die Hände bewegt. Das Mädchen kam in der Nacht nach Polinas Geburtstag auf die Welt, bei der Familie zu Hause; wenige Stunden danach tummelte sich die junge Mutter schon wieder in der Küche. „Oft sind die Ärzte grob und gefühllos“, sagt Polina. Ihrer Recherche nach werden die Kinder bei natürlichen Geburten gelegentlich gewaltsam gedreht, damit ihre Schultern schneller rauskommen. Auch ihr selbst wurde bei ihrer Geburt das Genick gebrochen, Polinas Mutter verbrachte mit ihr damals mehrere Wochen im Klinikum.

Polinas Freundin Natalja Petrowa, 26, bekam ihren Sohn in einer Geburtsklinik in Newinnomyssk. Polina hatte sie gewarnt: Sie solle aufpassen, dass die Ärzte ihr keine Stimulantien geben. Natalja erzählt jetzt, dass sie im Wesentlichen zufrieden war. Wenn jemand über russische Geburtskliniken schlecht rede, sei das Verleumdung. „Nur anfangs wurde ich von der Leiterin derart angeschrien, dass ich fliehen wollte“, räumt sie ein. „Und eine Sache bedrückte mich schwer: Mein Mann durfte nicht zu mir, und ich wurde schon zwei Wochen vor der Geburt stationiert. Wegen der Grippe stand die Klinik unter Quarantäne.“

Allein und ahnungslos

Tatsächlich beklagte Natalja sich nach der Geburt aber deutlicher bei ihrer Freundin Polina, wie diese verrät. Es sei verboten gewesen, Unterhosen zu tragen, weshalb die Frauen nach der Geburt gezwungen gewesen seien, Damenbinden zwischen die Beine gequetscht festzuhalten. Als Vegetarierin konnte Natalja in der Klinik bis auf Gebäck nichts essen, es wurden keine entsprechenden Speisen angeboten, so war sie auf die Versorgung durch Verwandte angewiesen. Und: Bei Natalja kam es tatsächlich zum Kaiserschnitt. Natalja betont, dass die Ärzte ihren Dienst gut erledigt hätten und der Eingriff ihrem Sohn das Leben gerettet habe. Im Netzwerk VK postet sie wiederum, dass das Genick ihres Sohns verdreht worden sei, trotz Kaiserschnitts.

Auch Nina Taratowa aus Tuapse, einer Stadt mit gut 60.000 Einwohnern in der Region Krasnodar im Südwesten des Landes, hat da einiges zu erzählen. Sie ist 28 und hat ihre beiden Klinikgeburten als Schreckenserfahrungen gespeichert. Ihren Namen möchte sie nicht in einer Zeitung lesen, darum ist er hier geändert. Vor der Geburt ihres ersten Kinds meldete sie sich zu einem Vorbereitungskurs an der örtlichen Klinik an. In der ersten Sitzung ging es um Verhütung, in der zweiten wurde erklärt, wie Befruchtung und Menstruation funktionieren. Die dritte Veranstaltung wurde abgesagt, der Arzt hatte keine Zeit. Nina ging dann nicht mehr hin. „Zum Glück war der Kurs umsonst“, lacht sie heute. Allerdings war sie auf einen der wichtigsten Tage ihres Lebens dann unvorbereitet.

Es war 2010. Nina hatte Angst. Auch in Tuapse gab es Gerüchte über tragische Vorfälle. Für Nina begann die Tortur in einem Raum, in dem ihr ein Klistier gesetzt werden sollte. „Es gab weder Toilettenpapier noch Lufterfrischer. Die Dusche hatte kein warmes Wasser. Ich hatte Wehen, Blutungen, die Ärzte ließen mich da liegen, ich war allein und ahnungslos.“ Später sei sie aufgefordert worden, hin und her zu gehen. „Ich bekam Stofffetzen, um mein Blut vom Boden abzuwischen. Das Kind war schon dabei, herauszukommen, als es mir erlaubt wurde, mich auf den OP-Tisch zu legen. Ich kletterte ohne Hilfe drauf.“ Die Geburt sei dann so weit ganz gut verlaufen.

Den nächsten Schock erlitt Nina, als sie die Toilette und die Dusche auf der Station aufsuchte. Sie befanden sich im Flur und waren für die ganze Etage gedacht. Die Dusche sei schmutzig gewesen, rostig, verschimmelt und mit Haaren übersät. Die Kloschüssel: mit Blut verschmiert. Gegenüber habe sich eine große blaue Tonne mit blutigen Stofffetzen, gebrauchten Windeln und Damenbinden befunden. „Es war entsetzlich, stinkig.“ Immerhin: Sie sei in der Klinik nur wenige Male angeschrien worden – etwa als sie ihrem Mann das Kind zeigen wollte. Der junge Vater hatte sich in das Gebäude geschlichen. „Die Väter dürfen nicht mal Blumen bringen, ihren Frauen gratulieren“, behauptet auch Nina.

Alexandre Sladkevich ist freier Journalist und Fotograf (sladkevich.com) und gerade auf einer mehrwöchigen Russlandreise unterwegs

Ihre zweite Tochter brachte sie 2013 zur Welt. Nach der unangenehmen ersten Erfahrung hatten ihr Mann und sie erwogen, diesmal nach Krasnodar zu fahren, wo die Klinikbedingungen besser sein sollen. Doch das Paar entscheidet sich gegen die lange Fahrt. Also landen sie wieder in der schon bekannten Geburtsklinik in Tuapse, der einzigen in der Stadt. Anders als beim ersten Kind verpasst man hier nun erst einmal eine Spritze, die Ärzte weigern sich, ihr zu sagen, worum es sich dabei handelt. Während sie wartet, bis sie an der Reihe ist, gebiert, nur durch eine Glaswand von ihr getrennt, eine Frau ein Kind. Eine andere liegt im Flur, die Zimmer sind alle voll. Es ist August, zum Ersticken heiß und schon spät, überall Mücken.

Nina stellt irgendwann fest, dass das Personal schlafen gegangen sein muss. Als ihre Wehen einsetzen, wird eine Krankenschwester wach und keift, sie solle „damit aufhören“. Erst als der Kopf des Babys sichtbar ist, werden schließlich ein Arzt und eine Hebamme aus ihrer Nachtruhe gerufen. Irgendwie geht die Geburt dann über die Bühne. Nina und ihr nicht ganz sauber abgetupftes Neugeborenes nächtigen schließlich erschöpft auf dem OP-Tisch. Nach der ersten Geburt hatten Nina und ihr Mann, wie in Russland üblich, dem Arzt Schokolade, Sekt und Geld geschenkt. Nun, nach der zweiten Geburt, lassen sie es bleiben. Zwar war das keine Alleingeburt im klassischen Sinne – aber: „Im Grunde hab ich diesmal auch allein geboren“, sagt Nina.

Das siebenfarbige Blümchen

Und sie erzählt dann noch eine Geschichte, die fast unglaublich klingt: Die Frau des Leiters des Verwaltungsbezirks Tuapse, Tatjana Lybanewa, ist Vorsitzende einer Wohltätigkeitsorganisation mit dem Namen: „Das siebenfarbige Blümchen. Zusammen den Kindern helfen“. Als Nina ihr erstes Kind in der Klinik gebar, kam ein TV-Team, um die Wohltäterin zu filmen. „Wir Mütter bekamen saubere Bettwäsche, mit der wir unsere Betten selbst frisch beziehen sollten, und neue, nicht zerrissene Nachthemden. Der Fußboden wurde geputzt. Nach dem Frühstück wurden wir wie eine Schafherde nach unten gejagt, wo Lybanewa feierliche Reden hielt. Dann goss sie für uns den Tee auf. Eine von uns Müttern wurde diskret zur Seite geführt und bekam Anweisungen. Sie setzte sich dann zu uns an den Tisch, Lybanewa bewirtete sie mit einem Lächeln und gab ihr ein Päckchen. Als die Kameras ausgeschaltet waren, wurde der Frau das Päckchen wieder weggenommen.“

Nina zeigt einen Zeitungsausschnitt, einen Artikel über die „neugeborenen Engelchen“ und die Gattin der Klinikleitung. Sie will auch noch einen Artikel mit dem Titel Geburtsklinikum in Tuapse. Versuch zu überleben online zeigen. Sie sucht und sucht – doch anscheinend hat jemand dafür gesorgt, dass dieser Artikel nicht mehr im Internet zu finden ist.

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