Für viele Autor:innen ist Österreich die Anti-Heimat par excellence. Doch die Anti-Heimat-Literatur ist nicht nur eine eigenständige Gattung, sie ist vor allem auch die wichtigste, die dominante Form der Literatur in der Zweiten Republik: Die Autoren, die diese Form herausgebildet und weiterentwickelt haben, ergeben zusammen „ein beinahe vollständiges Who’s who der modernen österreichischen Literatur“. So ist es in einem Essayband von Robert Menasse von 2005 nachzulesen. Ein Jahr zuvor erhielt Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis, was einige Kritiker*innen zum Anlass nahmen, den Anfang vom Ende der Anti-Heimat-Literatur für eingeläutet zu erklären. Sie werden bis auf den heutigen Tag eines Besseren belehrt.
Von der 1987 in St. P&
in St. Pölten geborenen Cornelia Travnicek etwa, der viel und fast in allen Genres schreibenden, mehrfach bepreisten Niederösterreicherin. Assu. Aus Reisen lautet der doppelsinnige und programmatische Titel ihres jüngsten Gedichtbandes. Hauptanliegen ist der Nachvollzug des Ausreisens und der Überwindung territorialer Grenzen. Die Reisegedichte fangen an den Ankunftsorten gemachte Erfahrungen ein und werden von geografischen Koordinaten sowie Scans aus dem teilweise wüst zerstempelten Reisepass der Autorin begleitet. Damit ist eine biografische Lesart des Buches ausdrücklich erwünscht. Doch die von den Texten aufgenommene Gegenwart ist nicht nur privater Natur. Verhandelt wird unser aller Gegenwart in deren planetarer Dimension.Im Gedicht Czernowitz (2016) wandert das Wort „Bomba“ von Hoteltür zu Hoteltür, und die, für die der Krieg Alltag ist, treten mit einem Glas Cognac in der Hand hervor. Und so fließt der Textstrom von Land zu Land und Missstand zu Missstand. In Bangkok schläft das lyrische Ich im „Rhythmus der Stromausfälle“, in Bali Barat begegnet ihm die „Milchbrötchenverpackung vom Frühstück / In 10,3 Meter Tiefe“, und in Tokio sind die Krähen auf dem Weg in Gaskammern – die Anspielung auf die Tragik deutsch-jüdischer Geschichte ist nicht an den Haaren herbeigezogen, Tokios Regierung gab Anfang des neuen Jahrtausends tatsächlich die Massentötung von Großstadtkrähen in Auftrag.Zurück in seiner Herkunftslandschaft Niederösterreich kommt das von seinen Reisen verwandelte und mit unzähligen Fremdperspektiven angereicherte lyrische Ich nicht umhin, seinen Landsleuten den Spiegel vorzuhalten. Und so kulminiert Travniceks Reiselyrik im langen Anti-Heimat-Poem Von wo wir stehen, einer anspielungsreichen Überschreibung des Textes der niederösterreichischen Landeshymne O Heimat, dich zu lieben. Das Langpoem entstand im Rahmen des 100. Jahrestages des Trennungsgesetzes, mit dessen Inkrafttreten 1921 Wien und Österreich selbstständige Bundesländer wurden. Es sollte ein Text werden „über die Zukunft des Landes“. „Aber kein Blick / Nach vorne ohne den zurück“, heißt es an einer Stelle.Auch die 1967 in Bad Eisenkappel geborene Cvetka Lipuš schickt sich in ihrem neuen Gedichtband auf Reisen ins Innere wie Äußere, was Orte wie Rio de Plata oder den Mississippi River einschließt. Die ausschließlich auf Slowenisch schreibende Kärntnerin hat das seltene Glück, in Klaus Detlef Olof einen ständigen Übersetzer ihrer Lyrik gefunden zu haben, der sie seit nunmehr gut dreißig Jahren begleitet.Jene für Lipuš typische Ironie steckt schon im Titel Weggehen für Anfänger. Denn natürlich ist das keine gewöhnliche Ratgeberliteratur, mit der sich Abschiednehmen und Sterben lernen ließen. Als Weggehende sind wir allesamt Anfänger*innen, wie Drago Jančar in seinem kurzen Vorwort treffend schreibt. Das Augenmerk liegt, und wie könnte es anders sein bei einem solchen Themenkreis, auf dem „Erinnerungsgebiet“, den „Chiffren an der Erinnerungswand“. Und gegen diese schmerzauffrischenden und häufig im Pathos mündenden Chiffren hilft bisweilen nur gewitzte Leichtigkeit: „Jetzt / gehe ich mit dem Vergessen. Ich bin total verknallt / in sein kurzes Gedächtnis.“ Doch das Langzeitgedächtnis liegt stets auf der Lauer, und Lipuš holt unentwegt zum Erinnern aus, ruft sich auch die Vorfahren ins Gedächtnis, die von ihnen „mit Worten / befrachtete Landschaft“. Der Schluss, „unsere Position / bestimmen die Achsen Vergangenheit und Zukunft“, ist da nur logisch: „Am Schnittpunkt quert die Zeit das Körperareal, / azurblau und durchlässig an den Rändern, / im Kern eine knöcherne Macht.“ Es ist die Überführung äußerlicher Strukturen in die Innerlichkeit des Menschen – da ist die Rede von Straßen, die durch sie laufen, oder von Städten und Dörfern, die sich in ihr breitmachen –, was die Lyrik von Lipuš so avanciert macht. Raum erfahren heißt: Zeit erfahren. Die „Landschaft des Körpers“ wird zum Ort der Durchreise von sich zu sich.Die neue herausragende Stimme im polyphonen Chor der österreichischen Gegenwartslyrik ist Anja Bachl. Das Lyrikdebüt der 1986 in Salzburg Geborenen, weich werden, ist auch gestalterisch eine Augenweide. Die 61 Sechszeiler sind ausnahmslos unten auf der Seite abgedruckt – wie Fußnoten zum darüberliegenden Weiß. „weich werden ist / Zärtlichkeit und Widerstand leisten zur selben Zeit“, heißt es im letzten Sechszeiler. Damit ist die Poetik der Autorin treffend zusammengefasst. Denn die Gedichte kippen nie ins Aktionistische, auch wenn sie Grund genug dafür hätten, geht es ihnen schließlich um umkämpfte Angelegenheiten von politischer Bedeutung – sei es nun Mutterschaft, Feminismus oder gendergerechte Sprache. Bachls lakonisch-aphoristische Konstruktionen, die häufig nur vom Infinitiv Gebrauch machen, kommen als Erinnerungsnotizen daher, als Selbstaufmunterungen, dem eigenen Kurs treu zu bleiben: „keine Rückschlüsse vor Erfahrungen heben / nach Pronomen fragen / Wandfarben als Optionen haben / Voraussetzungen zerlegen / eine Unterredung einer Implosion vorziehen / sich gedeihen lassen auch wenn es wuchert“, lautet eine solche Erinnerungsnotiz. Der Anspruch, die Verhältnisse zu verbessern, gilt dem Selbst und ist nicht belehrend an eine anonyme Masse adressiert.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1