Ein großes krankes Kaff

Nordengland Kingston upon Hull, im letzten Krieg schwer bombardiert, heute im postindustriellen Niedergang, ist der ideale Ort für eine der besten Krimireihen Englands
Ausgabe 46/2016

Hull in Großbritannien ist einem größeren deutschen Publikum vermutlich ebenso wenig bekannt wie der Autor David Mark, sein Polizist Aector McAvoy und dessen Vorgesetzte Patricia „Trish“ Pharaoh. Hull in Ost-Yorkshire gehört zu den am schlechtesten angesehenen Städten in Großbritannien. „Hull is dull“ lautet das seit Langem anhängende Etikett. David Mark belehrt uns eines Besseren. Ende Dezember wird er 39, er schreibt eine der besten Krimiserien Englands, nur dass das hierzulande kaum jemand weiß. Vier seiner bisher fünf Romane liegen übersetzt vor. Sie dümpeln unauffällig im Wald-und-Wiesen-Mittelfeld, wirken mit Covern und Titeln wie x-beliebige Regio-Krimis: Sterbensangst (2012), Dein ist die Rache (2013), Ewige Buße (2014), Erbarme dich unser (2016). Gähn. Außer ein paar Kundenstimmen bei Amazon gibt es in Deutschland noch kaum eine ernsthafte Besprechung. Das aber ist ein Versäumnis.

Val McDermid, die sich jedes Jahr für ihr Panel „New Blood“ beim Krimifestival von Harrowgate durch 40 bis 70 britische Krimidebüts wühlt, stellte im Jahr 2013 David Marks Erstling Sterbensangst als „aufregende, neue Stimme“ und den Autor als „großes Talent“ vor: „Funkelnd geschrieben, mit einem wirklichen Gefühl für das Geschichtenerzählen.“ Diesen Vorschusslorbeeren ist David Mark bis heute gerecht geblieben, ja er hat sich gesteigert. Wer seine Bücher liest, vergisst sie nicht. Seine Figuren sind keine Klone x-beliebiger Regionallurche, sein Hull nicht irgendein Provinzkaff, die Konflikte nicht auf tausendfach durchgekautem ZDF-Format. Er traut sich etwas, setzt seine sehr eigenwilligen Figuren gehörig unter Strom und schreibt ein am amerikanischen Hardboiled-Stil geschultes, oft knappes Englisch mit kurzen Sätzen, durch das wie die Sonnenstrahlen am oft verhangenen Himmel von Hull unvermittelt Poesie schießt. Seine Bücher sind, der gelegentlichen Sonne zum Trotz, echtes Noir. Immer bleibt da ein Herzklopfen, ein Frösteln, ein existenzieller Abgrund, ein Bangen um das weitere Schicksal der Figuren. „Cosy“ sind diese Romane nicht.

Und die 250 Kilometer nördlich von London gelegene Stadt Hull ist darin ein wichtiger Charakter. David Mark hat hier sieben Jahre als Polizeireporter der Yorkshire Post gearbeitet, er kennt die Gossenperspektive, die dunklen Seiten und Geheimnisse. „Diese Stadt inspiriert mich“, sagte er. Wie Val McDermid ihr Manchester, Ian Rankin sein Edinburgh, Stuart MacBride Aberdeen, Denise Mina Glasgow, John Harveys Nottingham oder Adrian McKinty und Stuart Neville Belfast macht er Hull zu seiner Leinwand.

Wie soll man den bestechen?

Kingston upon Hull, kurz Hull genannt, war einst Großbritanniens drittgrößer Hafen, das Zentrum der Walfang- und Tiefseefischerei. Im Zweiten Weltkrieg war es abgesehen von London die am heftigsten bombardierte britische Großstadt, 95 Prozent der Gebäude wurden beschädigt oder zerstört. Hull liegt auf niedrigem Meeresspiegel, im Zuge des Klimawandels werden sich die 250.000 Einwohner (Städtepartnerschaft mit Greifswald) irgendwann höher ansiedeln müssen. Für gute Jobs müssen die Jüngeren schon heute bis Leeds und Sheffield oder noch weiter pendeln. Hull gehört zu den ärmsten Städten des Landes, hat eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und wenig Perspektiven. Der Poet Philip Larkin war 30 Jahre lang Chefbibliothekar der Universität, auch Krimiautor Francis Durbridge (1912 – 1998) und sein viel besserer Kollege Lionel Davidson (1922 – 2009) stammten aus Hull.

Hull könnte also ein Begriff sein, spätestens jetzt mit David Mark sollte es einer werden. Im Februar 2017 erscheint sein siebter Kriminalroman, Cruel Mercy. Es lohnt sich, die Romane chronologisch zu lesen. Das ist kein Muss, aber eine Empfehlung, denn die inneren Konflikte der Personen werden schrittweise entwickelt, die Schrauben immer weiter angezogen.

Schon in den beiden ersten Romanen werden Echokammern angelegt, Erzählfäden und Schicksale verschränkt, wird Figuren Raum gelassen. Der Untergang eines Fischtrawlers, ein Macheten-Massaker in Sierra Leone und eine Brandkatastrophe spiegeln sich in Sterbensangst in die Gegenwart. Ein damals überlebender Seemann ertrinkt, ein mit einer Machete angegriffenes Mädchen wird zerhackt, ein Mann, dessen Familie verbrannte, verbrennt jämmerlich.

Detective Sergeant Aector McAvoy, die Hauptfigur, erkennt zu spät, dass auch er ein Überlebender ist und vielleicht auf der Liste steht. David Mark führt seinen Helden als Außenseiter ein, er ist in der Abteilung verfemt, weil er sich einem korrupten System verweigerte. Seine Chefin wartet ein halbes Jahr, ihn auf die Vergangenheit anzusprechen. So gibt es manch lang brennende Lunte, überhaupt fallen dieser McAvoy und die ihn umgebenden Figuren aus dem Rahmen. Er ist ein unförmiger, weichherziger Gigant mit einer Ecke aus Stahl, der sich zu Hause bei Frau und Kindern am wohlsten fühlt, als würde nur dort etwas Warmes in ihm glühen, und der bei der Arbeit oft nicht weiß, wie er sich fühlen und benehmen soll. „Ich hätte keine Ahnung, wie ich Sie bestechen sollte“, sagt ihm einmal ein alter Gangster. Wenn er Gewalt einsetzen muss, kommt ihm das wie ein Scheitern vor. Sein Autor aber bringt ihn in genau solche Situationen, und zumindest in seiner Fantasie und seinen Plots testet er auch die Bindungskräfte von Familie.

David Mark aber „kann“ nicht nur Männer. McAvoys Frau Roisin stammt aus einer Traveller-Familie, dem fahrenden Volk Großbritanniens und Irlands, sie hat manch eigene Agenda. Seine exzentrische Chefin Trish Pharaoh ist eine starke, nonkonformistische Frauenfigur. Vollbusig, sexy, vierfache Mutter, ein Spät-Punk mit Bikerstiefeln, wahlweise am Abend im Pub so aufgedonnert, dass McAvoy „dem Impuls widerstehen muss, sich das Bild ihres eng anliegenden Kleides ins Gedächtnis zu fixieren“. Sie kann junge Kolleginnen nicht ausstehen, „die in Miniröcken und High Heels herumtänzeln und dann das Gesicht verziehen, wenn ihnen jemand nachpfeift“. Auch Pharaohs Härte und Selbstbehauptung wird in den Romanen getestet.

Diese Bücher sind – es muss wiederholt werden – alles andere als cosy. David Mark zeichnet nicht nur Polizeiarbeit realistisch und ohne Überhöhungen, durch seine Erzählungen zieht sich als Lavastrom die Unterwelt des organisierten Verbrechens. Das liest sich real, böse, erbarmungslos, Polizei und die Ordnungskräfte sind ebenso darin verwoben wie Politik und „bessere“ Gesellschaft. Tiefe, pessimistische Schatten wirft all das über das Werk, es erhöht sich der Realitätsgehalt mit Wucht.

Erbarme dich unser ist dem gerade gestorbenen angeheirateten Großvater gewidmet. Erst nachträglich war es David Mark aufgefallen, schreibt er im Nachwort, wie sehr sein McAvoy doch diesem Polizisten gleiche. Und das hier klingt auch sehr nett: In Ewige Buße bedankt sich David Mark bei den Dieben, die ihm den Laptop samt beinahe fertiggestelltem Buch stahlen. Das habe ihm Gelegenheit gegeben, sich extra harte Wendungen auszudenken.

Info

Erbarme dich unser David Mark Peter Friedrich (Übers.) Ullstein 2016, 416 S., 9,99 €

Dead Pretty David Mark Mullholland Books 2016, 343 S., 7,99 €

*Die Fotos der Beilage

Kamil Sobolewski, geboren 1975 in Gdansk, Polen, studierte Fotografie an der Berliner Ostkreuzschule. Für seine Arbeit „Rattenkönig“ wurde er unter die neun Finalisten im Fotowettbewerb „gute Aussichten – junge deutsche fotografie“ für das Jahr 2015/2016 gewählt. Die Jury schrieb, Sobolewski begebe sich auf eine Reise ins Innere. „Die kleinen schwarzweißen Formate zeigen eine metaphorische Reihung unterschiedlicher Gefühls- und Bewusstseinszustände, in denen es um existenzielle, grundsätzliche Fragen geht. Aus den kraftvollen, existenzialistisch durchhauchten Bildern geht eine Mischung aus Trotz und Resignation, Aggression, Kampf und Zärtlichkeit hervor.“ Mehr Informationen zu Kamil Sobolewskis „Rattenkönig“ (in Englisch, 14,8 × 21 Zentimeter, 64 Seiten, 24 Euro) unter dienacht-magazine.com

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