Arbeitet die ostdeutsche Linke im Umfeld der PDS an einer Versöhnung mit der Nation, die dem Mainstream gehorcht? Der Debatte "Globalisierung - Nation - Internationalismus" liegt eine Studie von Erhard Crome zugrunde, die im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt wurde. Kritik wurde bislang in folgende Richtungen geäußert: Auschwitz mache einen positiven Bezug auf die Nation unmöglich, Cromes Nationenbegriff sei zu abstrakt, er verharmlose die imperialistischen Tendenzen der deutschen Außenpolitik, und er verdecke schließlich die Frage, um die es eigentlich geht, die "soziale Frage".
Zu Recht haben Winfried Wolf und Sahra Wagenknecht darauf hingewiesen, dass Erhard Cromes Studie Die Linke und ihr Verhältnis zu Nation und Nationalstaat das gegenwärtige Deutschland schönredet. Indem sie die "nationale Frage" als soziale dechiffriert und darauf reduziert, verfehlt Wagenknecht allerdings das Debattenthema. Die kulturelle nationale Formierung des neuen Deutschlands erscheint als bloß abgeleitetes Phänomen, hier gehe es um bloße "Privatsachen" und "Vorlieben", es handle sich um "irrationale Züge", die lediglich dadurch zum Politikum würden, dass sie zur Camouflage inakzeptabler sozialer Verhältnisse dienten. Ein altbackener Materialismus, dem Kultur bzw. die Macht der Diskurse (als einer Materialität sui generis) entgeht, führt so mal wieder zu einer durch und durch instrumentalistischen Sicht von Kultur. Entsprechend äußert Wagenknecht in Sachen Nation und Kultur nur Trivialitäten, so über amerikanischen Jazz und deutsche Hochkultur.
Schade, dass Wagenknecht das Zitat des vormaligen Außenministers Klaus Kinkel, das sie ihrem Text voranstellt, ausgerechnet um die Sätze gekürzt hat, in denen der entscheidende Begriff fällt: Normalität beziehungsweise Normalisierung. Kinkel verknüpft nämlich an dieser Stelle Außen- und Innenpolitik inklusive der Frage der kulturellen nationalen Formierung. In jenem Grundsatzreferat vom März 1993, das Jürgen Link mit treffender Ironie Manifest für den dritten deutschen Versuch taufte, wies Kinkel den Weg, auf dem sein Nachfolger einige Schritte vorwärts gekommen ist: "In dieser neuen Phase der Weltpolitik steht auch das wiedervereinigte Deutschland vor einem Neuanfang. Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern: Im Inneren müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht. Die Rückkehr zur Normalität im Inneren wie nach außen entspricht einem tiefen Wunsch unserer Bevölkerung seit Kriegsende. Sie ist jetzt auch notwendig, wenn wir in der Völkergemeinschaft respektiert bleiben wollen. So wie wir die innere Vereinigung nur mit einem ehrlichen Patriotismus schaffen, so werden wir unserer weltpolitischen Verantwortung nur mit einer Übernahme aller Rechten (sic in der FAZ; A.S.) und Pflichten eines UN-Mitgliedes gerecht. ... Unsere Bürger haben begriffen, dass die Zeit des Ausnahmezustandes vorbei ist ... Eine Grundgesetzänderung, die die ganze Breite möglicher UN-Aktionen abdeckt, wird von Monat zu Monat dringlicher. Die Konflikte warten nicht ab, bis wir soweit sind ... Wir müssen jetzt unsere Fähigkeit zur Normalität nach innen und außen unter Beweis stellen, wenn wir politisch nicht schwer Schaden nehmen wollen. Zu dieser Normalisierung gehört auch ein deutscher ständiger Sitz im Sicherheitsrat."
Der hier hergestellte Zusammenhang von Deutschlands drittem außenpolitischen Versuch und der erneuten Volkwerdung der Deutschen spielte in den (politisch-)kulturellen Debatten der vergangenen Jahre eine entscheidende Rolle. Die nationale Frage wird als Frage der Normalisierung verhandelt, wie eine aktualhistorische Skizze zeigt. Nachdem Steffen Heitmann vom Bundeskanzler Kohl zum CDU-Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ausgerufen worden war, erregte er Aufsehen mit seinen Äußerungen. In der Bild-Zeitung erklärte er, merkwürdig Land und Bevölkerung identifizierend: "Ich möchte gerne, dass Deutschland nichts anderes als ein normales Volk unter normalen Völkern sein kann. Die Sonderrolle ist zu Ende, endgültig." Zwecks Beendigung der "Sonderrolle" vollführte er in der Süddeutschen Zeitung einen Eiertanz um die Singularität der Judenvernichtung; diese, "der organisierte Tod" getauft, war ihm so einmalig wie andere historische Vorgänge auch - was die Singularität durchstreicht. Jedenfalls könne man Deutschland ihretwegen nicht "bis ans Ende der Geschichte" eine "Sonderrolle" auferlegen.
Als Martin Walser, der - von Crome vernachlässigt - in Westdeutschland "von links" immer wieder die "nationale Frage" thematisierte, ob als Lobredner auf Albert Leo Schlageter, als Apologet Heitmanns oder durch nationale Vereinnahmung Victor Klemperers, mit seiner Friedenspreis-Rede im Herbst 1998 den ersten Antisemitismus-Streit der Berliner Republik vom Zaum brach, ging es um eben diese Normalität: Auf seine Verteidigung Heitmanns anspielend, fragte er suggestiv: "Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?"
Das Frankfurter Auditorium spendete Walser an dieser Stelle spontan Beifall. Die Botschaft verbreitete sich blitzschnell. Hier trafen Rechtsruck der Mitte und Rechtsdruck in die Mitte einmal mehr aufeinander. Die Deutsche Nationalzeitung hob diese Passage eigens lobend hervor, die rechtsextreme Wochenzeitung Junge Freiheit füllte mit ihr in großen Lettern ihre Titelseite, um dann Walsers Rede komplett abzudrucken. Auch im Parteiorgan Der Neue Republikaner brachte es Walsers Frage auf die Titelseite. Man konnte frohlocken, dass nun die politische Elite des Landes sich einer These annahm, die am rechten Rand seit langem kursierte. So hatte Armin Mohler, der alte Haudegen der sich intellektuell gerierenden extremen Rechten, schon 1968 in seinem Pamphlet Vergangenheitsbewältigung gefordert: "Da sie aus dem Gleichgewicht geraten sind, müssen die Deutschen wieder zu einer normalen Nation werden wie die anderen". Und die Republikaner (REPs)erklärten in ihrem Siegburger Manifest 1985, ihre Forderungen ließen sich "nur verwirklichen, wenn Deutschland wieder eine normale Nation wird". Zur Beendigung des dem Zustand der "normalen Nation" entgegengesetzten "Ausnahmezustands" gehöre "vor allem die Entkriminalisierung unserer Geschichte als Voraussetzung für ein selbstverständliches Nationalbewusstsein".
"Entkriminalisierung unserer Geschichte" schloss und schließt in diesen Kreisen auch die Leugnung von Auschwitz ein. Das ist selbstverständlich nicht hegemoniefähig, für das neue Deutschland aber auch gar nicht nötig seit der bahnbrechenden Systeminnovation, die Deutschland den Bündnisgrünen verdankt: Auslandseinsätze der Bundeswehr wegen Auschwitz. "Entkriminalisierung unserer Geschichte" hat aber weitere Facetten. Derer bedarf es tatsächlich als Voraussetzung für ein selbstverständliches Nationalbewusstsein. Daher findet sich in den Debatten über Pflege und Reinhaltung der deutschen Sprache, der deutschen Gegenwartsliteratur wie der über die nunmehr eigenständige deutschsprachige Popmusik fast durchweg diese Rückbindung. Es gehört zur Tücke des Objekts, dass nun ausgerechnet in der durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung angestoßenen Debatte hier einige Schritte getan werden.
Michael Jäger stellte fest, dass bei Crome von Auschwitz nicht die Rede ist (damit hätte man die Debatte beenden können). Wagenknecht dagegen spricht von Auschwitz, doch tut sie dies in einer Weise, die im schlimmsten Sinne bestätigt, dass für sie die "Problematik von Cromes Studie nicht in ihren Thesen zur Nation" liegt, wo sich vieles finde, "dem man ohne Vorbehalte zustimmen" könne. Hier bricht die Liebe zu einem - selbstverständlich sozialistischen - deutschen Vaterland durch. Gegen den Irrweg einer Nation, wie Alexander Abusch ein Buch betitelte, über dessen Analyse des Nazismus von 1946 Wagenknecht noch nicht hinausgekommen ist, behauptet sie die Möglichkeit eines guten deutschen Weges. Wen wundert´s, dass sie mal wieder auf den "ersten antifaschistischen und antikapitalistischen Staat auf deutschem Boden" zu sprechen kommt. Darf man fragen, was das für ein Antifaschismus war, in dem das Wesen des Nazismus, nämlich die Vernichtung der Juden, unbegriffen blieb? War er nicht auch die Grundlage der erbärmlichen Israel-Politik der DDR, die bei linken Traditionalisten bis heute fortwirkt? Muss man nicht weiter fragen, ob dieses Manko des DDR-Antifaschismus unter anderem darin begründet war, dass der deutsche Nationalismus nicht reflektiert worden war, was auch bei Crome noch Spuren hinterlässt, spricht dieser doch, den langen völkischen Vorlauf verkennend, vage schwankend vom "Gebrauch oder Missbrauch des Wortes Nation" durch die Nazis.
Anders als Abusch, in dessen Buch die Vernichtung der europäischen Juden am Rande erwähnt wird, spricht Wagenknecht immerhin von Auschwitz. Doch der Interpretationsrahmen hat sich kaum gewandelt. "Noch hinter der irrsinnigsten Barbarei standen rationale (und nicht nationale!) Interessen. Krieg und Völkermord waren hochprofitabel; Tod durch Arbeit sicherte Mehrwertraten nahe 100 Prozent", schreibt Wagenknecht und verkennt damit die Differenz von Konzentrations- und reinen Vernichtungslagern, von "Vernichtung durch Arbeit" und der Arbeit der Vernichtung. Die Praxis in den Vernichtungslagern war keineswegs eine Art turbokapitalistische Ausbeutung von Arbeitssklaven sondern die Fabrikation von Leichen als Selbstzweck, begründet in einem völkisch-nationalistischen und antisemitischen Wahn, der nicht auf ein rationales Interessenkalkül zurückführbar ist.
Nur dank dieser Verkennung kann Wagenknecht der deutschen Nation etwas abgewinnen, darin mit Crome nicht uneins. Wie bemüht ihr Ringen um ein sozialistisches Vaterland ist, zeigt sich daran, dass auch Wagenknecht gegen ein Phantom anrennt. Ihrer instrumentalistisch verkürzten Faschismus-Interpretation stellt sie eine einzige konkurrierende Interpretation entgegen. Dabei handelt es sich um einen Pappkameraden, den abzuschießen sich auch andere Kreise bemühen, mit denen Wagenknecht wahrlich nichts zu tun hat. An Frank Schirrmachers Goldhagen-Karikatur in der FAZ und Übleres erinnernd, stellt Wagenknecht fest: "Es gab keine genetische und auch keine historische Erbanlage, die die deutsche Nation zwanghaft und unausweichlich in den Faschismus und nach Auschwitz trieb." Mit der Metapher von der "Erbanlage" erledigt sie neben der wahrlich idiotischen offen biologistischen These gleich noch jede historische These, jede ideologie- oder diskurshistorische Untersuchung über die spezifische Formierung des deutschen Nationalismus als völkischem Nationalismus, begleitet vom Antisemitismus.
Das lässt Wagenknecht übersehen, inwiefern gerade diese Diskurse heute fortwirken, so im per Grundgesetz fixierten Verständnis von "Volk" als Blutsbande, und auch und gerade in gesellschaftlichen Phänomenen resultieren, die zu vernachlässigen sie Crome vorwirft. So räumen Crome und seine Kritikerin auf der Linken der deutschen Normalisierung Hindernisse aus dem Weg, statt die Prozesse der Nationalisierung zu analysieren und zu kritisieren. Nation ist weder Schicksal noch unüberschreitbarer Rahmen gegenwärtiger Politik, Kritik der deutschen Nation ist möglich und bitter nötig - es sei denn, man will, gar in Liebe, "dabei" sein.
Alfred Schobert ist Mitarbeiter beim Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS).
Bisher erschienene Beiträge zur Debatte: Erhard Crome, (Freitag 8), Michael Jäger (Freitag 9), Winfried Wolf (Freitag 10), Sahra Wagenknecht (Freitag 12)
Die Debatte wird in der nächsten Ausgabe mit einem Beitrag von Peter Ruben fortgesetzt.
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