Erdbeben in der Türkei: Die Stadt Elbistan gibt es nicht mehr

Katastrophe Per Sprachnachricht konnte unser Autor drei Menschen aus der am schlimmsten betroffenen Erdbebenregion der Türkei sprechen. Sie versuchen das Unmögliche: in einem Katastrophengebiet zu leben
Zerstörtes Haus in der Kleinstadt Elbistan am Dienstag
Zerstörtes Haus in der Kleinstadt Elbistan am Dienstag

Foto: Imago/Xinhua

Wie Millionen von Menschen im Südosten der Türkei wacht Mehmet Türkmen in den frühen Morgenstunden des Montags durch ein starkes Erdbeben auf. Als er sich mit seinen Kindern und seiner schwangeren Frau vorsichtig aus seiner Wohnung im fünften Stock in der Stadt Gaziantep, der sechstgrößten Stadt der Türkei mit über zwei Millionen Einwohner*innen, nach unten bewegt, spürt Türkmen drei weitere Nachbeben, bevor er sich ins Freie retten kann.

Etwa eine Stunde lang wartet die Familie im Dunkeln unter dem fallenden Schnee und steht dann mit etwa zwanzig anderen Familien in einem behelfsmäßig eingerichteten Raum im Innenhof eines Vereinsgebäudes. Als der Tag anbricht, beginnt Familie Türkmen ihr beschädigtes Viertel zu besichtigen. Sie erschrecken angesichts des Ausmaßes der Verwüstung.

Türkmen ist Vorsitzender der örtlichen Textilgewerkschaft BİRTEK-SEN und ist aufgrund von Strom- und Internetausfällen in der Region telefonisch nicht zu erreichen. Er kommuniziert über Sprachaufnahmen per WhatsApp, die er an der Freitag schickt. Bei der Auflistung der Bedürfnisse der Menschen, erzählt Türkmen, dass Tausende von Menschen jetzt auf der Straße leben und das bei Minusgraden. Noch erschreckender als die Menschen, die in der Kälte zittern, seien diejenigen, die die Kälte nicht aushalten und in ihre beschädigten Häuser zurückkehrten: „Ich war in 15 Vierteln unterwegs und konnte kein einziges Zelt sehen.“ Einige Menschen versammelten sich in Turnhallen oder sozialen Einrichtungen, die wirtschaftlich gut Gestellten säßen in ihren Autos, während der Rest auf der Straße wartete, so Türkmen.

In Gaziantep, wo es seit drei Tagen schneit, wird in der Nacht zum Montag starker Schneefall erwartet. Der Gewerkschafter sagt, dass die Hilfe trotz der Mobilisierung durch die türkische Katastrophenbehörde AFAD und der Stadtverwaltung nicht angekommen ist. Das größte Problem seien Unterkunft und Nahrung. Seiner Meinung nach sollten die Menschen auf der Straße mit Bussen zu den Fabriken in der Industriezone von Gaziantep transportiert werden, was derzeit nicht funktioniert: „Im Kampf gegen das Erdbeben werden wir auf eine harte Probe gestellt.“

In der Region wurde der Notstand ausgerufen

Der Generaldirektor der AFAD, Orhan Tatar, verkündet am Dienstag die Zahlen: Die Zahl der offiziellen Todesopfer allein in der Türkei ist wie erwartet gestiegen, auf über 4500, die Zahl der Verletzten auf 22.286. Mehr als 5000 Gebäude sind offiziell als „eingestürzt“ registriert. In Syrien kamen Behörden und Rettungskräften zufolge bisher mindestens 1.712 Menschen ums Leben. Obwohl die Behörde AFAD mit einem Such- und Rettungsteam von mehreren tausend Personen in der Region ist, konnten viele Menschen aufgrund der Vielzahl an eingestürzten Häusern noch nicht erreicht werden.

Viele beschädigte Straßen in der Region wurden für den Verkehr gesperrt, der beschädigte Flughafen der Stadt Hatay wurde komplett geschlossen, während die Flughäfen von Kahramanmaraş und Malatya für zivile Flüge gesperrt wurden. Menschen, die unter den Trümmern eingeklemmt waren, posteten in der Nacht und am Montag in den sozialen Medien Fotos und ihren Standort und baten um Hilfe. Auch Hilfegesuche zu verschütteten Familienangehörigen werden zahlreich geteilt und an Organisationen vor Ort übermittelt.

Über 45 Länder sind derzeit an den Hilfsaktionen beteiligt. In der Türkei wurde am Montag eine siebentägige Staatstrauer und am Dienstag der Notstand für die am schwersten betroffenen Gebiete ausgerufen. Seit Montagabend haben sich angesichts der Verzweiflung zahlreiche Freiwilligengruppen gebildet, die mit Hilfe zivilgesellschaftlicher Organisationen oder auf eigene Faust in die Region eilen, um Menschen zu befreien oder um sich an der medizinischen Versorgung der Verletzten zu beteiligen.

Der Student Yusuf Doğan, aus Elbistan, einer nördlichen Provinz von Kahramanmaraş an der syrisch-türkischen Grenze, wird vom ersten Erdbeben am Morgen im Schlaf überrascht. Doğan, der an der Technischen Universität in Istanbul studiert, war zu Besuch bei seinem Onkel. Das Erdbeben habe so lange gedauert, dass er noch nicht einmal aufstehen konnte, erzählt er per Sprachnachricht, die immer wieder abbricht, die Internetverbindung ist sehr wacklig. Nach dem ersten Beben verlässt er mit seiner Familie die Region. Als sie sieht, dass das Haus keine großen Schäden hat und er die Nachricht erhält, dass zwar einige Gebäude eingestürzt seien, aber dass Menschen wieder in ihre Häuser zurückkehrten, machen sie sich wieder zu ihrem Wohnort auf.

Das Trinkwasser sei ungenießbar

Das zweite Erdbeben ereignet sich kurz nachdem er seine Sachen gepackt und ins Auto geladen hat: ein Erdbeben der Stärke 7,5 mit dem Epizentrum Elbistan. Als Doğan wegfährt, sieht er noch, wie das Haus in sich zusammenstürzt. Die gesamte Nachbarschaft wird unter einer riesigen Staubwolke zerstört. Doğan fährt mit seiner Familie ins nahegelegene Dorf. Aus der sicheren Entfernung sehe er nun eine ungewohnte abendliche Schwärze, die über der Stadt Elbistan liegt: „Normalerweise sehe ich von hier aus immer helle Lichter, aber der Strom ist komplett ausgefallen.“

Einige seiner entfernten Verwandten befänden sich noch immer unter den Trümmern, sagt Doğan und fügt hinzu, dass sie derzeit auf keine Hilfe hoffen können. Wie viele Menschen in Elbistan glaubt er, dass die Bürger ihrem Schicksal überlassen wurden: „Im Moment gibt es keinen Staat. Jeder versucht, seine eigenen Angelegenheiten irgendwie zu regeln. Im Dorf haben wir kaum Handyempfang. Das Trinkwasser fließt rot aus dem Wasserhahn. Sie warnen uns, dieses Wasser nicht zu trinken, aber es ist nicht einfach, einen offenen Supermarkt zu finden.“

Eine weitere Frau aus Elbistan, die ihren Namen nicht nennen will, sagt, dass der gesamte Ort dem Erdboden gleichgemacht worden sei. Die Intensität des zweiten Erdbebens am Mittag hätte die Menschen in der Gegend in Angst und Schrecken versetzt, der Zustand der Häuser im Dorf sei katastrophal und die Menschen hätten nur wenig zu essen und keinen Strom: „Es gibt nichts, was wir tun können. Viele Menschen liegen noch unter den Trümmern. Elbistan ist am Ende.“ Zahlreiche Nachbeben bergen immer noch ein großes Risiko.

Während die Zahl der Todesopfer mit jeder Meldung um Hunderte ansteigt, setzten bei der schwangeren Frau von Mehmet Türkmen am Montagabend die Wehen ein. Das Krankenhaus, in das er seine Frau bringt, weigert sich, sie aufzunehmen, weil es überfüllt ist. Türkmen und seine Frau versuchen, in der zerstörten Stadt ein Krankenhaus zu finden. In der letzten Sprachaufnahme, die er schickt, zittert Türkmens Stimme zum ersten Mal: „Ich schätze, das Baby wird inmitten einer Katastrophe kommen.“

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