Stichwahl in der Türkei am 28. Mai: „Der Kampf geht weiter“
Reportage Unser Autor hat den Wahlabend in der Istanbuler Parteizentrale der größten Oppositionspartei verbracht. Seit Montagnachmittag ist es offiziell: Es kommt zu einer Stichwahl zwischen Erdoğan und seinem Herausforderer Kılıçdaroğlu am 28. Mai
Kampagnenposter des CHP-Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu
imago/ ZUMA Wire
In der Istanbuler Zentrale der größten Oppositionspartei, der CHP, herrscht Nervosität. Es ist kurz nach 17 Uhr türkischer Zeit. Die Wahllokale haben gerade geschlossen. Erst vor wenigen Wochen, Anfang April, feuerten Unbekannte aus einem Auto mehrere Schüsse auf das Gebäude der Parteizentrale, verletzt wurde niemand. Heute am Wahlabend treffen sich hier mehrere Dutzend CHP-Mitglieder und etwa 100 inländische wie ausländische Journalistinnen und Journalisten und warten gespannt auf die Verkündung der ersten Ergebnisse, die auf einer großen Leinwand in ein Zelt im Garten der Zentrale übertragen werden. Am Rande steht ein Buffet mit Suppe und Gebäck. Doch kaum jemand bedient sich.
In der Türkei fand am Sonntag die als „his
h kaum jemand bedient sich.In der Türkei fand am Sonntag die als „historisch“ betitelte Wahl statt. Mehr als 55 Millionen Wähler stimmten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ab, die Wahlbeteiligung lag bei knapp 88 Prozent. Auf der einen Seite steht Recep Tayyip Erdoğan, der die Türkei mit seiner Partei, der AKP, seit über 20 Jahren mit weitreichenden autokratischen Tendenzen und Korruption regiert, auf der anderen Seite Kemal Kılıçdaroğlu, auf den sich nach langen Diskussionen und Kompromissen ein Großteil der Opposition, in einem Sechserbündnis und mit Unterstützung der prokurdischen HDP, geeinigt hat.Das Medienverbot für die Berichterstattung über die Ergebnisse endet um 18.30 Uhr. Bei den vergangenen Wahlen in den letzten zehn Jahren hatte die regierungsnahe Nachrichtenagentur Anadolu die Ergebnisse aus Gebieten veröffentlicht, in denen Erdoğans Unterstützung bekanntermaßen hoch lag. Das ist heute Abend nicht anders. Nach den ersten Ergebnissen liegt Erdoğan mit über 55 Prozent in Führung. Seltsamerweise ist das eine gute Nachricht.Der Vorsprung von Erdoğan wird immer kleinerBei früheren Wahlen wurde Erdoğans Gesamtstimmenzahl sogar mit bis zu 65 Prozent angegeben. Dies ist ein bekanntes Muster, das sich fortsetzt: Im Laufe des Abends wird der Vorsprung immer kleiner. Wäre das Vertrauen in die Institutionen groß genug, würden die Menschen ins Bett gehen und erst am nächsten Morgen das Ergebnis erfahren. Aber in dieser Nacht wird niemand schlafen wollen.Die Anhänger der CHP stimmen jedes Mal „Kılıçdaroğlu, Präsident“ an, wenn die oppositionellen Fernsehsender Ergebnisse verkünden, die Kılıçdaroğlu in einer bestimmten Stadt vorne sehen. Doch Erdoğans Vorsprung schrumpft nicht so schnell, wie die Leute hier hoffen. Im Laufe des Abends wendet sich Istanbuls CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu, seit dem letzten Jahr mit einem politischen Verbot und wegen Beleidigung des Präsidenten mit einer vierjährigen Haftstrafe belegt, wendet sich an die Menschenmenge im Inneren des Gebäudes.Die ausgebildete Ärztin gilt innerhalb und außerhalb der Partei als Person, der man vertrauen kann. In einem kleinen Saal mit Hunderten von Journalisten gibt Kaftancıoğlu eine sehr kurze Erklärung ab: Die Opposition sei sowohl in Istanbul als auch in der Türkei führend.Es folgen Erklärungen der Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş. Sie kritisieren die Manipulation der Wahl durch die Nachrichtenagentur Anadolu und versichern, dass Kemal Kılıçdaroğlu der nächste Präsident der Türkei werden würde.Am Wahlabend kaum verlässliche DatenDa die Nachrichtenagentur Anadolu die Ergebnisse zugunsten des amtierenden Staatspräsidenten nennt, führt dies zu einer Vielzahl von Spekulationen. Da die Regierungspartei wie auch die Opposition mit eigenen Datengrundlagen arbeiten, bleibt es schwierig, den Überblick zu behalten. Beide Seiten, die Regierung und die Opposition, verkünden ihren sicheren Wahlsieg, auch wenn die Stimmen bis in die späte Nacht hinein noch nicht ausgezählt sind. Laut Medienberichten werden bei berechtigten und unberechtigten Zweifeln an den Wahlurnen, manchmal sogar mehrmals, die Stimmen nachgezählt, was zu Verzögerungen führt.Kurz vor 22 Uhr twittert Erdoğan, dass „die Wahlen in einer sehr positiven Atmosphäre stattgefunden hätten“ und fordert die Menschen auf, die Wahlurnen bis zum Ende der Wahlen im Blick zu behalten. Minuten später twittert Kılıçdaroğlu und wirft dem Hohen Wahlausschuss YSK vor, die Ergebnisse zurückzuhalten und somit die Wahl zu manipulieren. Der Vorsitzende des Wahlausschusses, Ahmet Yener, erklärt daraufhin, dass es keine Unregelmäßigkeiten gebe. Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit an diesem Abend.Während die CHP-Führungsriege schweigt, analysieren politische Experten, wie der bekannte Kommentator Emin Çapa im oppositionellen Fernsehsender „Halk TV“, dass es für Kılıçdaroğlu fast unmöglich sei, in der ersten Runde zu gewinnen. Im Saal herrscht nun Unruhe. Einige schimpfen laut die Leinwand an, andere wiederum verlassen den Saal. Es wird still unter dem großen weißen Zelt. Fast zeitgleich tauchen erste Bilder von Siegesfeiern vor AKP-Zentralen in Istanbul und Ankara, auf. Die Anhänger der AKP sind bereit, den Sieg zu feiern. Erst spät in der Nacht wird Erdoğan in Ankara auf dem Balkon des AKP-Hauptquartiers stehen und die bereits erwartete Balkonrede halten. Fast ausgelassen bis glücklich über das Ergebnis könnte man seine Rede deuten. Obwohl er keinen Sieg für sich beansprucht, ist er sich sicher, dass er gewinnen wird, entweder in dieser Runde oder in der Stichwahl in zwei Wochen. Unklar ist zu diesem Zeitpunkt noch immer das Ausmaß des Wahlbetrugs in bestimmten Regionen wie im Osten des Landes.Offizielles Ergebnis der Türkei-Wahl: 49,51 Prozent für ErdoğanDie Opposition aber spricht nicht eindeutig von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, sondern kritisiert lediglich die verzögerte Veröffentlichung der Wahlergebnisse. Nach langem Warten zeigen sich die Oppositionsführer um 3 Uhr morgens: Alle sechs Parteiführer des Sechserbündnisses sowie die beiden Bürgermeister von Istanbul und Ankara sind auf der Bühne. Die Stimme des Spitzenkandidaten Kılıçdaroğlu klingt angespannt, als er sagt: „Erdoğan hat nicht das Ergebnis bekommen, das er wollte. Wir werden diese Wahl in der Stichwahl gewinnen. Wir werden definitiv gewinnen und die Demokratie in dieses Land bringen.“Am Montagmorgen liegen die endgültigen und offiziellen Ergebnisse immer noch nicht vor. Interessanterweise werden die 1, 8 Millionen Stimmen der im Ausland befindlichen türkischen Staatsbürgerinnen und -Bürger noch am frühen Morgen ausgezählt. Erst am Montagnachmittag verkündet der Hohe Wahlaussschuss endlich das offizielle Ergebnis: Erdoğan liegt bei 49,51 Prozent, Kılıçdaroğlu bei 44,88 Prozent, der dritte Kandidat, Sinan Oğan, Kandidat des ultranationalistischen Ata-Bündnisses, erhielt 5,17 Prozent der Stimmen. Somit ist eine Stichwahl offiziell für den 28. Mai bestätigt, da keiner der Kandidaten die 50-Prozent-Markierung geknackt hat.Bei den Parlamentswahlen hat die AKP von Erdoğan zwar deutlich an Stimmen verloren, ist aber mit 35 Prozent immer noch die führende Partei, die zusammen mit ihrem Bündnispartner MHP die Kontrolle über das Parlament für sich beanspruchen kann.Prompt nach der Verkündung der offiziellen Ergebnisse veröffentlicht Kemal Kılıçdaroğlu ein zehnsekündiges Video: „Ich bin hier. Der Kampf geht weiter“. Mehrmals schlägt er dabei entschlossen auf den Tisch, hinter dem er steht und wendet sich direkt an die Wählerschaft. Wohl auch, um den Eindruck vieler Menschen, die den enttäuschenden Wahlausgang und die schwächelnde Führung der Opposition am Wahlabend in den sozialen Medien Luft machten, zu stoppen.Am Ende wird nun also die Nation entscheiden. Erdogan hat die Wahl zwar nicht gewonnen, aber die Opposition auch nicht. Im Moment scheint es, als sei der amtierende Präsident der Türkei einem Wahlsieg näher als sein Herausforderer, was Teile der Opposition bereits einen Tag nach der Wahl demoralisiert zu haben scheint. Doch zwei Wochen sind in einem Land wie der Türkei eine lange Zeit.
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