Nicht zuletzt durch meine Freitag-Lektüre verfolge ich ja auch, was in Deutschland so passiert und diskutiert wird.
Abgesehen von den großen Dingen las ich heute zwei Meldungen, die es mir im wahrsten Sinne des Wortes kalt den Rücken herunter laufen ließen.
Die erste Meldung: in diesem Winter sollen bereits 15 Obdachlose erfroren sein. Ich lebe hier in einem Land, das längst kein dem deutschen vergleichbares Sozialsystem aufweisen kann. Aber, auch wenn es hier mit Sicherheit Obdachlose gibt, das würde hier vermutlich erhebliche Fragen aufwerfen, wenn eine solche Meldung publik würde. Vielleicht aber mehr Fragen an die Gesellschaft als an den Staat.
Womit wir bei der zweiten Meldung wären. Mal wieder hat eine deutsche Schaffnerin - in Brandenburg - ein junges Mädchen aus dem Zug verwiesen, weil 2 Euro für die Fahrkarte fehlten. Sie musste bei -18 Grad an einem Bahnhof aussteigen, wo alles abgeschlossen war, also keine Aufwärm- oder Unterstellmöglichkeit.
Die Schaffnerin wird zu Recht - auch im SPIEGEL-Forum - kritisiert, möglicherweise ihren Job verlieren.
Ich frage mich jedoch, warum in diesem Zug NIEMAND die 2 Euro rausgerückt hat, um der Schaffnerin den von ihr wohl befürchteten Ärger mit der Verwaltung, dem Kind die Kälte zu ersparen. Warum NIEMAND der Schaffnerin Einhalt geboten hat.
Und damit bin ich wieder in Amman. In den kleinen Bussen hier, die nicht einer großen Busgesellschaft gehören, sammelt ja jeweils ein Mann das Fahrgeld ein. Ich stelle mir vor, einem Kind oder einem alten Menschen würde die Hälfte fehlen. Auch wenn der Einsammler auf Zahlung bestehen würde - aus Angst, das könnte sonst Schule machen - in diesem Bus sitzen ja noch mehr Leute. Einer würde sich sicher finden, der nochmal in die Tasche greift, dem Schaffner zunickt, und die Sache hat sich. Um so mehr bei schlechtem Wetter, was hier Sturzregen sein könnte, eventuell auch mal Schnee, oder spät abends.
Vielleicht lebe ich auch deshalb lieber hier.
Kommentare 21
@ Alien
Das hast Du sehr gut beobachtet. Dieses unmenschliche im Umgang miteinander.
teutonien ist nicht nur geografisch ein land der kälte. das stimmt, alien. allerdings ist das wohl eine folge des "fortschritts". der weit fortgeschrittene zerfall der sozialen ordnungen, was immer das heißen mag, ich denke an den schrumpfungsprozess der früheren großfamilie bis zur alleinerziehenden, steht in krassem gegensatz zur hochglanztechnik der autos, busse und bahnen. die technik funktioniert, in zukunft aber auch weniger, je weniger die sozialsysteme funktionieren.
Wir können mit uns selbst anfangen. In dem wir aufmerksam sind. Auf uns achten.
Und wir können anprangern. Auch öffentlich. So wie es auch Alien hier gemacht hat.
Eine Frage der Perspektive
Natürlich sind derartige Vorkommnisse unmenschlich und es ist nicht hinnehmbar, dass das in einer modernen Zivilgesellschaft überhaupt möglich ist. Keine Frage. Allerdings darf oder sollte man dabei nicht ausblenden, dass es in Deutschland sehr wohl auch viel Hilfsbereitschaft gibt - oft auch ganz unkonventionell und zumeist auch sehr unauffällig.
Im Gegenzug habe ich in Nordafrika auch erlebt, mit welcher Missachtung armen Menschen entgegen getreten wird und man ihnen als "reicher" Mann nur gibt, weil man befürchtet, sonst das eigene Ansehen zu verlieren. Schließlich gilt das Gebot der Hilfe auch dort.
Ich glaube, so groß sind die Unterschiede gar nicht.
In Deutschland werden Obdachlose in der Öffentlichket verprügelt / totgeschlagen.
Menschen erfrieren unter den Augen der Anwohner. Kein Grund einzuschreiten?
Aus meiner Schulzeit erinnere ich, dass alle Schüler in England kostenlos den Stadtbus nehmen durften. Auch ich.
Hier ist jeder Schüler ein potentieller Straftäter.
"Schlechte" Menschen gibt es überall. "Gute" auch.
Ich denke, ich weiß was Du meinst.
Vielleicht ist es zu banal. Viele Leute bekommen auch nicht mehr soviel mit, wie früher, weil sie immer Stöpsel im Ohr haben. Mir geht es so. Da muss eine Auseinandersetzung schon recht laut sein, damit ich das mitbekomme.
die perspektive und ihre fluchtpunkte.
der hit in tüten: im supermarkt fehlt einem menschen nen juro, eine andere legt einen dazu, wird vom kassierer angera-maunzt, sie solle das nicht tun... und das gera-maunze hört auch nicht auf, als sie ihn sanft darauf hinweist, dass sie mit ihrem geld doch tun könne, was sie wolle.
perspektive?
Jaja - mit Schnappschüssen von Leuten, die so drauf sind oder eben auch genau anders herum, kann man argumentieren, was auch immer man möchte. Ich habe schön öfter mal Leuten an der Kasse mit Kleingeld ausgeholfen und wurde nie dafür kritisiert. Das es sowas gibt, heißt doch nun nicht, dass es immer so ist oder gar eine Normalität.
Gut ausgedrückt. Das sind dann die Segnungen der "westlichen Zivilisation", die man gerne auch den anderen Ländern in der Folge von Demokratie und technischem Fortschritt vermitteln möchte ;-).
@Wildcard: Hilfbereitschaft in Deutschland, viel, wenn es um Überweisungen nach entsprechenden Fernsehbildern geht. Oder für so arme Tiere.
Sehr wenig, wenn man dem Hilfsbedürftigen in persona gegenübersteht. Ich denke, das ist ein besonders auffälliger Unterschied - wobei ich das von dir für Nordafrika geschilderte Verhalten nicht kenne, es sei denn, dass jemand sich ziemlich sicher ist, dass der Bettler ein Professioneller ist.
Hilfeleistung wird in den muslimischen Ländern oft sehr leise erledigt. Das hat lange Zeit zu dem Gerücht geführt, muslimische Länder würden sich an Hilfsaktionen nicht beteiligen. Dank einiger Hetzseiten wurde das jetzt auch nach dem Erdbeben in Haiti online zum Thema. Meine Artikel dazu auf meinem anderen blog erhielten durch entsprechende Suchanfragen unglaubliche Klick-Zahlen - ich fands, mit Verlaub, z.K.
Merdeister, ich kenne diese Strecken durchs ländliche Brandenburg ... und dann bei -18 Grad, sowohl die Schaffnerin als auch die nichtstuenden Mitfahrer gehören in meinen Augen zwei Stunden in den Kühlschrank...^^
Liebes Alien59,
Du sprichst mir aus der Seele. Herzliche Grüße aus Turgutreis nach Amman.
weinsztein
Tja nu. Ich war jeweils für einen längeren Zeitraum in Nordafrika und habe mir dort sagen lassen, aus welchem Grund ein Armer unterstützt wird. Dabei kam das eben heraus. Man musste als wohlhabender Mensch sehr genau darauf achten, dass die Spende dem eigenen Status entsprach. Wirklich freiwillig hat es aber kaum jemand getan. Es wurde eben ein wenig gegeben. Wagte es ein armer Mann allerdings, sich den Wohlhabenden darüber hinaus zu nähern, wurde er weggescheucht, wie ein Hund.
Natürlich gibt es auch in muslimischen Ländern echte Hilfsbereitschaft, wie es sie im Grunde eben überall gibt. Ich mag nur diese ewig eindimensionale Sicht nicht. Zudem habe ich es auch in Deutschland schon oft genug Hilfsbereitschaft erlebt - auch ganz direkt.
Nein, sie gehören eigentlich vor ein Gericht. Da wird sich doch wohl sicher etwas machen lassen.
@ Alien
Es gibt einen persischen Spruch:
Tue Gutes. Aber rede nicht darüber.
Das ist der Unterschied zu der westlichen Haltung. Oder?
Glaubste? War doch keine Sachbeschädigung.
Ich suche noch nach dieser "Anzeige" der Titanic zum "Schülerspezial". Wenn ich es finde, kommt es hier rein :-)
Chrisamar: soweit mir bekannt, ist der christliche Grundsatz genauso.
Aber mit der Verkündung von Spendensummen, um mehr Spenden einzusammeln, scheint der mir ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein.
Ich kann mir vorstellen, wie das abgelaufen ist. Anstatt insgesamt zwei Euro von wahrscheinlich zahlreichen Mitreisenden zu sammeln,vergräbt man sich lieber in die Bild-Zeitung oder schaut teilnahmslos aus dem Fenster. Nach dem Motto: Ich habe mir auch nichts zu Schulden kommen lassen.
nach meinen langjährigen beobachtungen halte ich es für wahrscheinlich, dass gandhi auf seiner berühmten kutschentour durch süd-afrika, wäre er in teutonien unterwegs gewesen, nie sein zeil erreicht hätte.
sorry, sein ziel, natürlich.
Da stimme ich dir zu. Wenn man ihn nicht gleich als Illegalen verhaftet hätte ;-) - geht ja nicht, einfach so rumstromern!