Go East - Erinnerungen an den wilden Osten

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Mehr als skeptisch war ich ja bei der „Wiedervereinigung“. Und doch, aus beruflichen Gründen, Kunst geht nach Brot, ließ ich mich dann 1992 doch auf den Weg gen Osten ein.

Ein regnerischer Spätwinterabend führte mich per Bus aus Berlin heraus Richtung Norden. Es schien immer dunkler zu werden, die Abstände zwischen den bewohnten Gebieten vergrößerten sich. In der Dunkelheit bildeten die Straßenlaternen der Dörfer Lichtinseln, eine vergleichsweise sparsame Beleuchtung – wenn auch noch mehr, als sich die gleichen Dörfer einige Jahre später noch würden leisten können. Als Kind unweit der Zonengrenze aufgewachsen, war für mich der Bereich hinter dem Stacheldrahtwall immer „dunkel“ gewesen. Gespenstisch, wie das an diesem Abend sich zu bewahrheiten schien.

Hotel – ehemals ein Ferienobjekt. Riesig, eine Bausünde an einem wunderschönen See, den ich im Morgenlicht entdeckte. Quitschorange Badezimmerobjekte, Bodendusche, Mini-Zimmer, Möbel Stil Jugendzimmer der siebziger. Tapeten und Vorhänge verschweige ich lieber. Aber alles pieksauber.

Frühstück: Büffet, lecker. Nach einiger Zeit in diesem gastlichen Etablissement gab es sogar richtig frischen Tee zum Selbstaufbrühen. Überhaupt blieb die Gastronomie mir in guter Erinnerung.

Arbeit: ich lernte. Kaderabteilung war die Personalabteilung – und ich machte mich gleich unbeliebt, weil ich, einmal einbestellt, darauf hinwies, dass die Formulierung: „Änderungen bedürfen der Schriftform“ im Arbeitsvertrag mitnichten hieße, dass ich eine gewünschte Gehaltsreduzierung auf Anweisung zu unterschreiben habe. Ich behielt mein Geld – ein wenig zur Strafe, hätte man mir die Lage, den Fehler, anständig erklärt, hätte ich wohl mit mir reden lassen.

Ich lernte weiter: was früher richtig war, kann doch so ein Westgesetz nicht einfach für falsch erklären. Ach, kann nicht? Pech, das Verwaltungsgericht teilte durchaus meine Meinung. Durchsetzen war gefragt, gab oft erstaunte Blicke, dass da jemand schlicht stur ist und sagt, so oder gar nicht.

Ich lernte: wer keinen Alkohol trinkt, ist wohl trockener Alkoholiker. Eine andere Begründung kaum denkbar.

Ich lernte: wer noch da ist, erzählt dir alles mögliche, aber nicht unbedingt, was du wissen musst. Der Zufall bescherte mir Bekanntschaften mit Geschassten – deren Angaben konnte ich im Archiv verifizieren und die stimmten dann auch noch. Die Archivakten verschafften mir viele Einblicke in das alltägliche Amtsleben Marke DDR – manches skurril, manches kaum begreiflich, vieles nur zu vertraut – hin und wieder rechte Schocks.

Personalpolitik, Stasi-Akten bzw. der Umgang damit: so gut wie nicht nachvollziehbar. Leute im Amt, deren Unterschriften ich schon auf merkwürdigen Dokumenten erblickt hatte. Andere aus völlig unwichtigen Positionen entfernt.

Witzige Konsequenz: immer wieder begegneten mir recht gebildete Leute in freien Berufen (z.B. Versicherungsvertreter), die früher ganz andere Posten gehabt hatten. Aha. Nicht so witzig der Bildungsstand der örtlichen Polizeibehörde. Irgendwann bei der Lektüre eines dank sprachlicher Mängel fast unlesbaren Protokolls entfleuchte mir der Seufzer, dass man wohl nur die behalten hätte, die der Stasi zu doof gewesen seien – Antwort des Fachmannes: na klar.

Erschreckend: die festzustellende Orientierungslosigkeit, vor allem der nachwachsenden Generation. Deren Eltern sahen die Veränderungen, fanden sie nur sehr teilweise gut, hatten überwiegend keine Vorstellung, was sie ihren Kindern mitgeben könnten, sollten. Welche Werte noch zählen könnten. Die Kinder sahen, fühlten die Verwirrung der Eltern, suchten, fanden – meist – auch bei den Lehrern nichts. Ziele? Nun ja, viel Geld verdienen. Freitag, Samstag: saufen.

Ja, so hart das letzte Wort klingt, auch bei durchaus gebildeten Leuten hörte ich Montags die Stories, wie viel man denn Samstag wieder vertragen hätte. Bei zu vielen. Die Jungs? Schweigen wir lieber.

Lehrer erwähnte ich. Ein paar gute, oft hoffnungslos am System, an den Kollegen scheiternd. Andere, ebenso ratlos wie Schüler und Eltern, Dienst nach Vorschrift. Vorstellung über Staatswesen und Recht der Bundesrepublik nach acht Jahren Wende: fast keine. Schnellkurs für die Verbeamtung – bitte nur prüfbaren Stoff.

Fazit: kein Ort für mich, um Wurzeln zu schlagen. Erinnerungen, schöne, an Landschaft, Sommer, Weite, Seen, an nette Menschen, wenn auch in derselben Sprache sehr fern und fremd. Ein Stück Geschichte für mich zum Mitnehmen, zum besser Verstehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alien59

Nächster Versuch. Statt PN: alien59(at)live.at

Alien59

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