Am 12. September 1980 putschte das türkische Militär. In der Folge wurden massenweise Menschen verhaftet, gefoltert, getötet. Linke, Demokraten, Muslime. Das Militär wollte "den Geist des Kemalismus" schützen und bewahren.
Dem diente auch die dann mit Genehmigung der Putschisten 1982 in Kraft tretende Verfassung. Mit ihr wollten sich Militär und Oberschicht die Macht über das Volk sichern - dem beide grundsätzlich nicht trauten und bis heute nicht trauen.
Schon bei der ersten Wahl passierte etwas unerwartetes. Turgut Özal, dessen Partei beinahe nicht einmal zur Wahl zugelassen worden wäre, gewann. Im Nachhinein empfand ich das immer als Segen für die Türkei - trotz allen Mängeln bewirkte er mit seinen Leuten einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung. Ein Grund für seinen Wahlsieg war jedoch gerade die Tatsache, dass er am Wenigsten mit den militärischen Machthabern identifiziert wurde.
Diese Verfassung von 1982, die dem Militär einen Einfluss fast ohne Kontrolle einräumte, wurde in einigen Punkten bereits modifiziert, aber noch nicht komplett geändert.
Die von der regierenden AKP geplanten Änderungen wurden im Vorfeld bereits eingeschränkt, da die Opposition das Verfassungsgericht anrief. Da es auch für den verbleibenden Teil keine Zweidrittelmehrheit im Parlament gab, wurde ein Referendum anberaumt - für den 12.9.2010.
Die Opposition, nationale und rechte Parteien, machten einen energischen Wahlkampf zur Verhinderung der Änderungen. Jedoch, auch viele Menschen, die nicht zu den Befürwortern der AKP rechnen, sprachen sich für die Änderungen aus - so z.B. Orhan Pamuk, der Schriftsteller.
Was sind denn das nun für Änderungen, die gestern die Zustimmung der Bevölkerung fanden? Der Spiegel formulierte eher reißerisch, sie könnten die Türkei "islamischer" machen. Das lesen zwar einige gerne, aber stimmt das denn?
Ein Blogger hat die Änderungen kurz zusammengefasst:
Die Bürger erhalten ein Individualbeschwerderecht bei Grundrechtsverletzungen durch den türkischen Staat.
• Die Zahl der Richter am Verfassungsgericht wird von 11 auf 17 erhöht. Erstmals werden drei dieser Richter vom türkischen Parlament gewählt.
• Die bisher bis zur Pensionierung gehende Amtszeit der Verfassungsrichter wird auf 12 Jahre beschränkt.
• Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte, der über die Unabhängigkeit der Gerichte wacht sowie Richter und Staatsanwälte ernennt, befördert und abberuft, wird von 7 auf 22 Mitglieder aufgestockt. Die zusätzlichen Mitglieder wählt die Justiz selbst aus.
• Im Zuge der Aufstockung werden dem Hohen Rat mehr Kompetenzen zugestanden. So wird der Rat die Arbeit der Richter und Staatsanwälte in Zukunft auch auf ihrer Gesetzmäßigkeit hin überprüfen.
• Durch die Bestellung eines Ombudsmannes wird den Bürgern wird eine weitere Möglichkeit gegeben, sich gegen rechtswidriges Handeln und staatliche Willkür zu wehren.
• Die Macht der Militärgerichtsbarkeit wird beschnitten. Sie ist künftig nur noch für Straftaten von Militärangehörigen in Ausübung und in Zusammenhang mit ihrer dienstlichen Tätigkeit zuständig. Alle anderen Straftaten von Militärangehörigen gehen in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte über. Zivilsten können nicht mehr von Militärgerichten verurteilt werden.
• Außerdem ist es jetzt möglich, hohe Generäle wegen Straftaten vor dem Obersten Staatsrat zur Verantwortung zu ziehen.
Grausam, wirklich - die Einführung der Scharia droht.
Im Ernst - das entspricht in vielen Stellen jeder europäischen Verfassung.
Erdogan hat i.Ü. gestern angekündigt, er hoffe, nach den Parlamentswahlen im nächsten Jahr eine komplett neue Verfassung mit allen Parteien aushandeln zu können. Dies hier waren einige dringende Änderungen. Auf einige davon, z.B. die Putschisten und Mörder von 1980 vor Gericht stellen zu können, haben viele schon lange gewartet.
Interessant ist, dass gerade in den Hochburgen der "Modernität" die Ablehnung am Größten war. Anscheinend war dort der Status quo nicht unbeliebt.
Ich hoffe, dass Erdogan das überlebt.
Kommentare 5
> Im Nachhinein empfand ich das immer als Segen für die Türkei Die Periode vor dem Putsch war doch eine Art Vorstufe zur Anarchie.
Die Griechen waren ja auch den Türken nicht dankbar weil Griechenland einen Krieg verloren hat, sondern weil die Türkei sie mit dem militärischen Sieg von einer Militärdiktatur befreit hatte. Griechenlands Aufnahme in die EU erfolgte dann recht schnell und das türkische Militär erhielt durch GLADIO viel Unterstützung.
Was der Spiegel schreibt ist ziemlich unwichtig weil da wird nur noch sarrazinisch populistisch gesabbert.
Das mit dem Segen bezog sich auf den Sieg Özals - keineswegs auf den Putsch. Scheine mich da missverständlich ausgedrückt zu haben.
Ja, Griechenland wurde seine Junta los, auch weil die EU das wollte - die türkischen Militärs wurden weiter und weiter unterstützt...
Kann ja sein das özal sich in der Tradition von Süleiman "dem Law-Macher" sah. Genau wie Erdogan heute. Das ist ja schliesslich so eine Art kulturelles Erbe.
Weiß nicht. Özal verstand einiges von Wirtschaft - und das ist der Türkei gut bekommen.
Erdogan scheint Leute zu kennen, die was von Wirtschaft verstehen - und in beiden Fällen kommt auch etwas davon in der breiten Masse an. Das macht in der Türkei Sinn, da das bei vielen Parteioberen anderer Parteien an allerletzter Stelle ihrer Interessen steht.
Allerdings führt es auch dazu, dass Leute AKP wählen, die sich nie als ausgeprägt muslimisch bezeichnen würden - gerade im Bereich der Selbständigen, die aber über das geschaffene Wirtschaftsklima froh sind. Wie auch immer....mal sehen, wie es weiter geht.
Erhielt eben einen Tweet - leider verstümmelt, irgendetwas tut sich da schon gegen K. Evren.
"Selig sind die Gläubigen, die in ihrem Gebet demütig sind, sich von allem leeren Gerede fernhalten..."