Kontroverse Abstimmung - 30 Jahre nach dem Putsch

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Am 12. September 1980 putschte das türkische Militär. In der Folge wurden massenweise Menschen verhaftet, gefoltert, getötet. Linke, Demokraten, Muslime. Das Militär wollte "den Geist des Kemalismus" schützen und bewahren.

Dem diente auch die dann mit Genehmigung der Putschisten 1982 in Kraft tretende Verfassung. Mit ihr wollten sich Militär und Oberschicht die Macht über das Volk sichern - dem beide grundsätzlich nicht trauten und bis heute nicht trauen.

Schon bei der ersten Wahl passierte etwas unerwartetes. Turgut Özal, dessen Partei beinahe nicht einmal zur Wahl zugelassen worden wäre, gewann. Im Nachhinein empfand ich das immer als Segen für die Türkei - trotz allen Mängeln bewirkte er mit seinen Leuten einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung. Ein Grund für seinen Wahlsieg war jedoch gerade die Tatsache, dass er am Wenigsten mit den militärischen Machthabern identifiziert wurde.

Diese Verfassung von 1982, die dem Militär einen Einfluss fast ohne Kontrolle einräumte, wurde in einigen Punkten bereits modifiziert, aber noch nicht komplett geändert.

Die von der regierenden AKP geplanten Änderungen wurden im Vorfeld bereits eingeschränkt, da die Opposition das Verfassungsgericht anrief. Da es auch für den verbleibenden Teil keine Zweidrittelmehrheit im Parlament gab, wurde ein Referendum anberaumt - für den 12.9.2010.

Die Opposition, nationale und rechte Parteien, machten einen energischen Wahlkampf zur Verhinderung der Änderungen. Jedoch, auch viele Menschen, die nicht zu den Befürwortern der AKP rechnen, sprachen sich für die Änderungen aus - so z.B. Orhan Pamuk, der Schriftsteller.

Was sind denn das nun für Änderungen, die gestern die Zustimmung der Bevölkerung fanden? Der Spiegel formulierte eher reißerisch, sie könnten die Türkei "islamischer" machen. Das lesen zwar einige gerne, aber stimmt das denn?

Ein Blogger hat die Änderungen kurz zusammengefasst:

Die Bürger erhalten ein Individualbeschwerderecht bei Grundrechtsverletzungen durch den türkischen Staat.

• Die Zahl der Richter am Verfassungsgericht wird von 11 auf 17 erhöht. Erstmals werden drei dieser Richter vom türkischen Parlament gewählt.

• Die bisher bis zur Pensionierung gehende Amtszeit der Verfassungsrichter wird auf 12 Jahre beschränkt.

• Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte, der über die Unabhängigkeit der Gerichte wacht sowie Richter und Staatsanwälte ernennt, befördert und abberuft, wird von 7 auf 22 Mitglieder aufgestockt. Die zusätzlichen Mitglieder wählt die Justiz selbst aus.

• Im Zuge der Aufstockung werden dem Hohen Rat mehr Kompetenzen zugestanden. So wird der Rat die Arbeit der Richter und Staatsanwälte in Zukunft auch auf ihrer Gesetzmäßigkeit hin überprüfen.

• Durch die Bestellung eines Ombudsmannes wird den Bürgern wird eine weitere Möglichkeit gegeben, sich gegen rechtswidriges Handeln und staatliche Willkür zu wehren.

• Die Macht der Militärgerichtsbarkeit wird beschnitten. Sie ist künftig nur noch für Straftaten von Militärangehörigen in Ausübung und in Zusammenhang mit ihrer dienstlichen Tätigkeit zuständig. Alle anderen Straftaten von Militärangehörigen gehen in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte über. Zivilsten können nicht mehr von Militärgerichten verurteilt werden.

• Außerdem ist es jetzt möglich, hohe Generäle wegen Straftaten vor dem Obersten Staatsrat zur Verantwortung zu ziehen.

Grausam, wirklich - die Einführung der Scharia droht.

Im Ernst - das entspricht in vielen Stellen jeder europäischen Verfassung.

Erdogan hat i.Ü. gestern angekündigt, er hoffe, nach den Parlamentswahlen im nächsten Jahr eine komplett neue Verfassung mit allen Parteien aushandeln zu können. Dies hier waren einige dringende Änderungen. Auf einige davon, z.B. die Putschisten und Mörder von 1980 vor Gericht stellen zu können, haben viele schon lange gewartet.

Interessant ist, dass gerade in den Hochburgen der "Modernität" die Ablehnung am Größten war. Anscheinend war dort der Status quo nicht unbeliebt.

Ich hoffe, dass Erdogan das überlebt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alien59

Nächster Versuch. Statt PN: alien59(at)live.at

Alien59

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