Nachgedanken einer Nachbarin

Ägypten Sultan redete, die Massen schwitzten, Twitter lief heiß: Kairo am 24. Juni, dem Tag, an dem Mursis Wahl zum Präsidenten bestätigt wurde

Es war hochgradig spannend gestern. Ich saß am Laptop, meinen Twitter-Account geöffnet, mein Mann am Fernseher, es lief die arabische Ausgabe von Al-Jazeera. Warten. Mir fiel es leichter, da die bösen Witze etlicher Tweets wirklich gut waren, den Fernsehzuschauern, die sich die ausschweifende Rede anhören mussten, lagen die Nerven blank.

Die Spekulationen wogten hin und her. Bedeuteten die vielen Einsprüche, dass es gelingen würde, Mursi so viele Stimmen abzuerkennen, dass doch Shafik der Gewinner sein würde? Oder war die lange Rede eine Entschuldigung an die Shafik-Wähler, dass man es trotz aller Mühe nicht geschafft habe, genug Stimmen für ihn zu finden?

Dann ging der Jubel auf dem Tahrir-Platz los, ich hörte ihn vom Fernseher her.

Zum ersten Mal gibt es in Ägpyten einen wirklich gewählten Präsidenten, der auch kein Militär ist. Alleine das ließ schon viele derer mitfeiern, die lieber einen anderen an seinem Platz gesehen hätten.

Hinzu kam eine weitere Überlegung: welcher der anderen Kandidaten hätte die Unterstützung und Logistik gehabt, um Shafik schlagen zu können UND das Regime zur Ehrlichkeit zu zwingen? Mursis Leute haben bereits vor einer Woche Ergebnisse veröffentlicht, die nun ca. 0,06 % vom amtlichen Ergebnis abweichen, also im Wesentlichen stimmten. Jede größere Abweichung hätte auch die amtliche Auszählung in Verdacht gebracht.

Was wird er tun, der neue Präsident? Ich bin gespannt, wünsche ihm – und vor allem den Ägyptern – alles Gute. Er tritt kein einfaches Amt an. Die erste Frage, die sich stellen wird, ist die nach der Auflösung des Parlaments. Wo soll er seinen Eid ableisten, wenn nicht dort?

Gleichzeitig wird er weiter gegen recht bösartige Kampagnen ankämpfen müssen. Zu oft wurde er als bloßer „Ersatz“ bezeichnet, weil ja der eigentlich Kandidat der FJP nicht zur Wahl zugelassen wurde – genau wie der Kandidat der Tahrir-Bewegung, Ayman Nour, weil beide erst vor kurzem aus der Haft entlassen worden waren. Nur: die FJP hatte sich mit der Anmeldung eines weiteren Kandidaten darauf vorbereitet. Da frage ich mich dann, ob nicht auch diese Voraussicht sie und ihren Kandidaten als besser zur Amtsführung geeignet scheinen lässt.

Gerade die deutsche Presse wird wohl noch ein wenig brauchen, bis sie sich abgewöhnt, die FJP und Präsident Mursi weiter zu verteufeln. So las ich heute als erstes über den „Islamisten“ als Präsidenten.

Aber nicht nur die Deutschen. In der letzten Woche gab es aus Ägypten unfaire Worte über die zukünftige First Lady – sie sei nicht vorzeigbar. Warum? Weil sie sich so kleidet, wie eine Mehrheit ägyptischer Frauen, mit Hijab. Sie wäre dumm. Hm. Als sie mit ihrem Mann in den USA war, soll sie als Übersetzerin gearbeitet haben. Sie spricht also sicher englisch und kann mit Staatsgästen bzw. deren Frauen reden. Kann das jede Politikergattin – auch bei den europäischen? Und: sie wird jedenfalls keine Staatsgelder veruntreuen, um europäische Modemacher zu füttern. Warten wir ab, was da noch kommt.

Bei aller Freude – es ist keine gute Lage. Das Militär hat die Karten gezinkt, die Verfassung nach Gusto umgeschrieben und wenn es Mursi nicht gelingt, auch im Bereich Wirtschaft etliches zu bewegen, wird man es ihm und seiner Partei (aus der er, wie ich las, heute austrat) anlasten. Nicht heute, nicht morgen – aber vielleicht wird man ihm nicht einmal 100 Tage gönnen, um sich zu bewähren. Und dann?

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Alien59

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