Zerstörtes Vertrauen

Köln Die Plakakte der umstrittenen "Vermisst"-Aktion des Innenministeriums, die als solche zurückgezogen wurden, fanden sich in Postkartenform ausgerechnet in der Keupstraße.

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Dies stand gestern schon im MiGazin , heute meldete es auch der SPIEGEL.

Dort, wo 2004 die NSU eine Nagelbombe zündete. Ein Kommentar im Netz fand, man hätte den Opfern und ihren Familien auch gleich ins Gesicht spucken können - das entspricht auch durchaus meinem Gefühl dabei..

Vor ein paar Tagen diskutierte ich mit der Dame von Welt und Schlesinger über das Gefühl des Nichterwünschtseins in Deutschland. Vorfälle wie dieser, die ganze unsägliche Lage der Anschläge und Ermittlungen sind die Spitze eines Eisbergs.

Das ging los mit der Anti-Terror-Hysterie, mit Diskussionen über Kopftuchverbote, Hassprediger (wobei man das für viele ja schon ist, wenn man nur die Möglichkeit der Höllenstrafe für Nichtgläubige oder den Geruch unrasierter Achseln erwähnt^^), staatliche Eingriffe in die Religionsdefinitionen per Auswahl von Islamprofessoren und -lehrern bis hin zur unsäglichen Beschneidungsdebatte.

Daimagüler schreibt in einem anderen MiGazin-Artikel über das, was nicht gesagt wird, und auch das ist bitter:

Im Februar dieses Jahres sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Neo-Nazi-Terrors in Deutschland. Sie stellte dabei viele richtige Fragen: „Wie konnte das geschehen?“, „Warum sind wir nicht früher aufmerksam geworden?“, „Warum konnten wir das nicht verhindern?“

Vor wenigen Tagen Wochen hat das Landgericht Köln die Beschneidung von Jungen als Körperverletzung gewertet und somit Hunderttausende muslimische und jüdische Eltern in Deutschland als potenzielle Straftäter gebrandmarkt. Auch dazu hat die Bundeskanzlerin Stellung genommen: „Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation.“

Was haben die Aussagen der Bundeskanzlerin miteinander zu tun? Wo ist das verbindende Element? Die Verbindung besteht in dem, was die Bundeskanzlerin nicht gesagt hat. Obwohl die NSU-Morde sich klar und überwiegend gegen türkischstämmige und muslimische Menschen richteten – das Bekennervideo der Terroristen ist eine vor Hass triefende Dokumentation der Islamophobie – hielt es die Bundeskanzlerin nicht für notwendig, in ihrer Rede auch nur einziges Mal die Worte „Türke“ oder „Muslim“ in den Mund zu nehmen.

Und obgleich es bei dem Urteil des Landgerichts Köln um den Fall eines muslimischen Jungen ging und in Deutschland etwa 30-mal so viele Muslime wie Juden leben, begründete sie ihre Ablehnung des Beschneidungsverbotes ausschließlich mit Blick auf das jüdische Leben in Deutschland. Es sollen keine Missverständnisse aufkommen: Es ist gut, dass wir wieder ein jüdisches Leben in Deutschland haben. Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft dieses jüdische Leben sichtbarer in unserem Alltag erleben dürfen und dass jede Bundesregierung alles dafür tut, um dies zu fördern.

Nicht das Reden der Bundeskanzlerin zum Judentum bereitet mir Sorge, sondern ihr Schweigen zum Islam. Würde sie über den Islam in Deutschland sprechen, müsste sie über den Hass sprechen, den Menschen muslimischen Lebens Tag für Tag erfahren. Wir hören nur über diesen Hass, wenn Menschen getötet werden, wie die hochschwangere ägyptischstämmige Marwa Al-Sherbini in einem Gerichtssaal (!) in Dresden oder eben die Mordserie der NSU. Wir leben in einem Land, das in Teilen rassistisch denkt und rassistisch handelt. Diese neuen Rassisten verpacken ihren Hass aber geschickt als die demokratische Sorge um „westliche Werte“ und machen ihn damit akzeptabel für die bürgerliche Mitte. Dieser „neue“ Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft fordert mehr Integrationsbereitschaft von Muslimen, verweigert die Integration aber auf doppelt-perfide Weise: indem er sich selbst vor jeder Veränderung in Deutschland verschließt, aber auch, in dem er jede Anpassungsleistung der Neudeutschen als unzureichend oder nur vorgetäuscht ablehnt. Die Zuspitzung dieser „Logik“ hat dann unter dem Jubel des bürgerlichen Mobs der Minister und Bundesbankvorstand a.D. Thilo Sarrazin vollzogen, in dem er die Genetik ins Spiel gebracht hat.


Es ist eine Spirale, die sich immer weiter und immer schneller zu drehen scheint. Schöne Worte zur Beschwichtigung helfen da wenig. Und das Verschweigen ist im Zeitalter des Internet schwieriger geworden.

1979 erschien in Deutschland ein Buch mit dem Titel "Dies ist nicht mein Land" - von Leah Fleischmann. Sie beschrieb den Prozess, der zu ihrer Auswanderung führte so, dass ich mit vielem Vergleiche ziehen kann. Sehr viele Muslime reflektieren nicht in dieser Weise - von denen, die es tun, gehen vermutlich immer mehr, wenn sie einen Ort finden, an den sie gehen können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alien59

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Alien59

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