Aus der Grube nach Berlin

Wahl Zwei Aktivist:innen von Fridays For Future wollen für die Grünen in den Bundestag – um wirklich etwas zu ändern. Ein Doppelporträt
Ausgabe 34/2021

Hinter Lützerath endet die Landstraße. Einfach so, mitten im Nichts. Auf den übrig gebliebenen Stücken Teer schwenken ein paar Teddybären Fahnen, sie sitzen vor einem Wohnwagen, zwischen den Büschen scheint ein gelb-rotes Zirkuszelt durch. Neben der Straße erhebt sich ein Wall aus Erde, drei Schritte, und man steht drauf. Dahinter erst ein riesiger Baumstumpf, dann ein halbes Möhrenfeld. Und plötzlich, als wäre der Boden einfach aufgegangen, ist da nur noch dieses gigantische Loch. Mehrere 1.000 Hektar groß, 200 Meter tief.

„Herzlich Willkommen an der CO2-Quelle Europas”, sagt Kathrin Henneberger im Tonfall einer Reiseführerin. Der schwarze Boden jener Quelle flimmert vor Hitze. Am anderen Ende lässt sich in der Ferne gerade noch das Kohlekraftwerk erkennen. Es dauert keine Minute, bis das Security-Personal des Energiekonzerns RWE auftaucht. Henneberger weiß, was sie sagen muss: Das RWE-Gelände beginnt erst hinter dem Wall und nicht bereits darauf. Die Security verschwindet wieder. „Für den Tagebau bin ich nicht neu. Wir kennen uns sehr gut“, sagt Henneberger.

2019 ist die Klimaaktivistin als eine Pressesprecherin des Klimabündnisses „Ende Gelände“ weiß gekleidet in den Tagebau gestürmt, um die Kohlebagger zu blockieren. Diesen September, knapp zwei Jahre nach der Aktion in Garzweiler, steht die 34-jährige Grüne in Nordrhein-Westfalen auf Platz 20 der Landesliste für die Bundestagswahl. „Als Klimaaktivistin kandidiert man nicht irgendwo, sondern da, wo das Problem ist.“ Ihr Wahlkreis liegt direkt am Tagebau. Ihr Wohnwagen steht auf den letzten Metern vor dem Wall.

500 Kilometer von Garzweiler entfernt sitzt Urs Liebau im Magdeburger Stadtrat, seit zwei Jahren schon. Der 26-Jährige kennt wie Henneberger die Bewegung, ist bei Fridays for Future aktiv, inzwischen jedoch mehr Politiker als Aktivist. Im Flur des Magdeburger Parteibüros stehen noch Überreste von Baumaterialien, die Küche riecht nach frischem Holz, das Büro ist frisch umgezogen. Liebau und seine Parteikollegen behandeln es wie ein zweites Wohn- und Arbeitszimmer, dabei ist es überraschend klein. Empfangstheke, Konferenztisch, Aufsteller. Ein paar Fahrräder passen trotzdem noch rein. Zuvor zwängten sich die sachsen-anhaltinischen Grünen noch oben in ein Hochhaus, von der Straße aus unsichtbar. Die Grünen wachsen, auch im Osten.

Liebau ist 2017 in die Partei eingetreten, dann kam schnell der Vorschlag, für den Stadtrat zu kandidieren, die Fridays for Future legten los. Liebau wird Mitbegründer der Magdeburger Ortsgruppe, organisiert Streiks, wird dann von seiner Fraktion gefragt, ob er sich eine Kandidatur für den Bundestag vorstellen kann, schafft es auf Platz zwei der Landesliste. Radikal ist Liebau eigentlich nicht, „Klimaschutz muss etwas für alle sein“, sagt er gerne, dunkles T-Shirt, beige Hose, schlichte Sneaker. Er will die gesellschaftliche Mitte und Konservative mitnehmen. Hinten im Büro schimpft ein Parteikollege über Landwirte, die sich nur um Umweltmaßnahmen kümmern, solange ihnen der Staat Geld dafür zahlt. Liebau verteidigt die Bauern. Es sei Aufgabe des Staates, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu handeln, nicht die des Landwirts.

Ziemlich beste Zukunft

Serie „Leben, Liebe, Kapitalismus – wird jetzt alles grün?“, fragten wir mit dem Freitag-Titel Ende Juni zum Start der Serie „Ziemlich beste Zukunft?“. Abschließend lässt sich das nicht beantworten, aber wir hoffen, dass Sie sich mit den Beiträgen zur sozial-ökologischen Transformation bereit für die Bundestagswahl fühlen – ohne dass wir für diese eine konkrete Empfehlung abgeben mögen. Lesen Sie lieber, was die Philosophin Eva von Redecker zu Wahlkampfdebatten um Verbote und Freiheit sagt, in einem Interview, das die Serie beschließt. Die Themen werden bleiben – oder, wie es Christian Welzbacher im Debatten-Ressort prophezeit: „Green-Growth-Bullshit werden wir vor und nach der Wahl noch viel mehr hören.“

Auf dem Erdwall hinter Lützerath bekommt Kathrin Henneberger noch immer leuchtende Augen, wenn sie von den Besetzungen der Kohlegrube spricht. Als sie Mitglied bei Greenpeace wurde, war sie 13 Jahre alt. Damit das 1,5-Grad-Ziel erreicht wird, weiß sie, reicht es nicht, sich auf eine Partei zu verlassen: Ausschlaggebend sind gesellschaftliche Kämpfe. Aufgewachsen ist Henneberger im Kölner Süden zwischen den Rheinauen und der Ölraffinerie von Shell. „Das hat mich sehr geprägt. Auf der einen Seite mein wunderschönes Auen-Öko-System am Rhein zu haben und direkt daneben diese riesige Industrieanlage, die raucht und stinkt, das Auen-System und unser Grundwasser bedroht. Dann guckt man als Kind natürlich zu den Erwachsenen hoch und fragt: Was macht ihr dagegen? Und niemand tut etwas!“ Also nimmt sie es selbst in die Hand: Zuerst Greenpeace, mit 16 dann zur Grünen Jugend, mit 21 deren Sprecherin, kurz darauf der Parteieintritt.

In den Tagebau gefallen

„Wer im Rheinland Klimaaktivist*in ist, fällt irgendwann in den Tagebau“, sagt sie gerne. Die Aktionen mit „Ende Gelände“ waren eine bewusste Antwort auf die ausbleibenden Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise. Wenn Henneberger nach Berlin geht, wird ihr Wohnwagen in Lützerath bleiben: Hier vor einer kleinen Villa, die Aktivist*innen bezogen haben, umgeben von wachsenden Baumhauslandschaften, Blumen- und Gemüsebeeten. Es wird gemeinsam gebaut, gekocht, gegessen. Außer den Vögeln ist nichts zu hören. Aber schon hinter der nächsten Baumgruppe droht ein Bagger, all das zu verschlingen.

„Ich hätte niemals kandidiert, wenn das hier nicht gewollt wäre”, sagt Henneberger. Sie meint damit weniger die Aktivist*innen, sondern mehr die Bewohner der Dörfer, die noch abgebaggert werden sollen. Und wenn Henneberger im Berliner Politbetrieb aufgerieben wird, sich zu sehr anpasst? „Dann gibt’s gleich einen Anruf“, scherzt Britta Kox. Sie ist Pressesprecherin der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ und Stadträtin in Erkelenz, der nächsten Stadt am Tagebau. Auch Kox’ Heimatdorf soll dem Tagebau noch weichen.

Auf dem Weg durch die Dörfer fallen die Häuser zwischen den mittelalterlichen Höfen auf, deren Familien bereits weggezogen sind. Die Fensterscheiben sind blind, die Räume dahinter erkennbar leer und dunkel. Die Hecken der Vorgärten bleiben ungeschnitten und die Bodendecker kriechen zum Nachbarn rüber. Die Straßen sind gespenstisch leer. Einige der Familien, darunter auch die von Kox, leben seit mehreren hundert Jahren in den Dörfern. Auf den Friedhöfen liegen ihre Vorfahren. Auch wenn sie diese nie gekannt haben, es ist doch der eigene Name, der auf den Grabsteinen steht. Entsprechend entsetzt reagierten die Dorfbewohner auf den Versuch von RWE, den Friedhof umzubetten, während die Nachkommen noch nebenan wohnten. Die schon leer geschaufelten Gräber wurden mit Mulch gefüllt, die beschädigte Mauer notdürftig repariert. Die Grabsteine fehlen. „Für mich ist es eine Frage der Solidarität mit den Menschen, die hier um ihre Häuser und Bauernhöfe kämpfen, dass man die, die hier sind, nicht allein lässt,“ sagt Henneberger.

In Sachsen-Anhalt ist ein Schulterschluss zwischen Grünen und Landwirten nur schwer vorstellbar. „Die Grünen werden hier schon zum Feindbild stilisiert. Gar nicht nur von den sehr Rechten, sondern durchaus auch von der CDU“, sagt Liebau. Es sei nicht leicht, gegen dieses Image anzukommen, die Angriffe seien hart. „Leute wie euch sollte man vergasen“, das war bisher das Heftigste, was dem jungen Politiker für seine politische Einstellung ins Gesicht gesagt wurde.

Dass die Grünen es hier schwer haben, hat die Landtagswahl vor Kurzem wieder gezeigt. 5,9 Prozent holte die Partei, die zur Bundestagswahl mit einer Kanzlerkandidatin antritt. Die Ortsgruppe von Fridays for Future in Magdeburg wird kleiner, Streiks werden seltener. Gleichzeitig sitzt Liebau mit den Grünen als stärkste Fraktion im Stadtrat, mit einem Mandat mehr als CDU und SPD. Dort macht er vor allem positive Erfahrungen, was mit einer starken Grünen-Vertretung möglich ist. Und ja: Selbst mit der CDU.

Klima und Flucht zusammen

Es ist schwierig, Liebau auf konkrete Pläne und Ziele beim Klima festzunageln. Wie die politischen Profis bleibt er vage und weicht aus. Vielleicht der einfachste Weg, konservative Wähler nicht abzuschrecken. Mit welchen Visionen sich diese Wähler für Klimapolitik begeistern lassen, bleibt dabei allerdings offen.

Deutlich entschiedener spricht er über die Demokratie. In die Politik ist Liebau auch gar nicht über das Klima gekommen, sondern über die Flüchtlingspolitik. Er ist damit groß geworden, was die Flucht aus der Heimat für persönliche Schicksale bedeutet. „Ich bin sehr christlich erzogen worden“, erzählt er. Seine Mutter, eine studierte Theologin, hat sich bereits in den 1990er-Jahren für Geflüchtete eingesetzt. Liebau hat oft mit ihnen an einem Tisch gesessen, ist mit ihren Erfahrungen und Erzählungen aufgewachsen. Einige der Geschichten haben ihn nicht losgelassen. Auch Liebaus Engagement für das Klima basiert auf diesen Erfahrungen. „Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Umwelt und Migration. Wenn wir Klimaschutzmaßen nicht voranbringen, werden in Zukunft immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen.“

Und um die Klimaschutzmaßnahmen voranzubringen, muss weniger CO2 emittiert werden. Der Niederrhein ist eine der CO2-intensivsten Regionen Europas. Dafür steht der Tagebau Garzweiler. Er ist Teil der Ursache. Die Bagger, deren Drohgebärde Henneberger täglich vor sich sieht, solange sie noch nicht nach Berlin pendelt, können nur dann still stehen, wenn Deutschland aus den internationalen Verträgen aussteigt, die den Kohleabbau durch RWE rechtlich absichern. Die Verhandlungen darüber können aber nicht von Aktivist*innen geführt werden. Dafür muss Henneberger in den Bundestag.

Dass diese Aufgabe nicht einfach ist, das weiß sie. Fest steht für sie vor allem: Mit der CDU wird es diesen Ausstieg niemals geben, zu sehr stünden dort die Interessen der Industrie im Vordergrund. „Laschet will die Klimakatastrophe nicht ernst nehmen und hält weiter daran fest, zugunsten der fossilen Industrie zu handeln.“

Liebau hingegen wäre durchaus bereit, mit den Konservativen zu koalieren. „Klimaschutz muss etwas für alle sein.“ Konkrete Maßnahmen in der Klimapolitik werden hauptsächlich in der Regierung gemacht. Also besser mit der CDU koalieren, um überhaupt Klimapolitik umzusetzen, als von der Opposition aus zuzusehen? In Magdeburg klappt es tatsächlich ganz gut. Natürlich stimmt die CDU nicht allen Grünen-Anträgen zu, aber Liebau hat die Erfahrung gemacht, dass die CDU bei klassischen grünen Themen wie Fahrradwegen und Klimaneutralität durchaus selbst aktiv werden kann oder zu Kompromissen bereit ist, wenn der politische Druck groß genug ist.

Für Druck, weiß Urs Liebau, braucht es aber nicht nur eine starke Grünen-Fraktion, sondern auch engagierte Leute von außen. Deshalb setzt er für den Bundestag auf ein Zusammenspiel zwischen Parlament und Bewegung. Er hat für sich den parlamentarischen Weg gewählt, aber „das heißt nicht, dass Parteipolitik allgemein besser ist. Politik ist nicht nur im Parlament, die ist allgegenwärtig. Und wir brauchen den Druck von außen.“ Hier treffen sich die beiden Grünen wieder: „Nur weil ein paar von uns jetzt in den Bundestag gehen, heißt das nicht, dass wir die Welt retten“, sagt Henneberger. „Wir brauchen immer noch massiven Druck von der Straße, damit wir unsere Ziele erreichen können. Am Ende zählt, dass alle aktiv sind.“

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Alina Saha

Redakteurin „Online“

Alina Saha hat in Berlin und Tokio Vergleichende Literaturwissenschaften und Japanstudien studiert. 2019 kam sie als Hospitantin zum Freitag, blieb zunächst als freie Autorin und ist seit Ende 2021 Teil der Online-Redaktion. Ihre Themen sind die Klimakrise, mit Schwerpunkt auf Klimabewegungen, sowie Gesellschaft und Politik Ostasiens.

Alina Saha

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