Angriffe auf Polizei und Feuerwehr, Verkehrschaos, die Notwendigkeit internationaler Wahlbeobachter und eine Verwaltung, die vollkommen undurchsichtig und konzeptlos agiert. Dieser „Failed State“ heißt Berlin. So nennen die Stadt zumindest konservative Parteien im Wahlkampf.
Für CDU und FDP ist klar: So darf es nicht weitergehen. Dabei arbeiten sie sich insbesondere an Bettina Jarasch, der Spitzenkandidatin der Grünen, ab. Das funktioniert, denn so gut wie alles, was sie sagt und tut, läuft einem konservativen Weltbild entgegen. Jarasch, 54, ist eine Frau, die sich bewusst Raum nimmt. Zu Terminen erscheint sie in fließenden Blusen, langem Jeansrock und mattgrüner Lederjacke. Ihre Ausstrahlung ist immer ein bisschen zu gut gelaunt und selbstbewusst.
B
tbewusst.Bei einer Diskussion vor der am 12. Februar anstehenden Wiederholungswahl sitzt sie mit überschlagenen Beinen auf ihrem Platz, beide Arme lässig auf den Lehnen. „Hier bin ich und hier kriegt ihr mich nicht weg“, scheint ihre Haltung zu sagen – zur Debatte hat ja auch der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller geladen. Ein recht konservatives Milieu.Mit diesem aber ist Jarasch vertraut: Ihr Vater war einst Präsident des Landesverbandes des Bayerischen Groß- und Außenhandels, ein Papiergroßhändler aus Augsburg. Wie so viele Berliner:innen ist sie nicht in der Stadt groß geworden, sondern kam Anfang der 1990er nach ersten Gehversuchen als Journalistin bei der Augsburger Allgemeinen aus Bayerisch-Schwaben nach Berlin, zum Studium der Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft an der Freien Universität, war studentische Hilfskraft bei Ekkehart Krippendorff. Augsburger ist auch ihr Mann – und beim Journalismus geblieben: Seit knapp 20 Jahren arbeitet er für den Rundfunk Berlin-Brandenburg – zwar eher konzeptionell denn redaktionell, der rbb hat ihn dennoch Mitte Dezember in Potsdam geparkt, wo er sich „um die Stärkung der Berichterstattungsstruktur in Brandenburg kümmern“ soll, und von Januar an Urlaub nehmen lassen. „Um jeglichen Anschein zu vermeiden, dass die Spitzenkandidatur seiner Frau zu einer möglichen Interessenkollision mit Oliver Jaraschs Aufgaben führen könnte.“Bettina Jarasch ist katholisch – aktiv katholisch. Seit Jahren Vorsitzende im Gemeinderat der St.-Marien-Liebfrauen-Gemeinde in Kreuzberg, gehört sie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an. Ihre Position dort bezeichnet sie selbst als „linksaußen“. Bei den Berliner Grünen wiederum, mit denen sie durch ihrer Arbeit für kirchliche Träger in der Geflüchtetenhilfe in Kontakt kam, galt sie als Reala. Aus der Zeit als Vorsitzende des Landesverbands zwischen 2011 und 2017 hat sie ihren Ruf, Konflikte ausgleichend moderieren zu können. 2017 scheiterte sie im Kampf um die Berliner Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl dennoch – an der heutigen Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Stattdessen führte Jarasch die Grünen in die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 und landete nur knapp hinter der Nummer eins der SPD, Franziska Giffey. Im rot-grün-roten Senat übernahm die Grüne die Zuständigkeit für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz – und damit die Rolle einer bevorzugten Adressatin Konservativer, die gerne im Auto durch die Stadt fahren.Die Grüne will die Zahl der Parkplätze in Berlin halbieren, mehr autofreie Straßen insbesondere im Sommer durchsetzen und die Radwege weiter ausbauen. Fahrräder, E-Scooter und mit Strom betriebene Leihroller dürfen seit Jahresbeginn nicht mehr auf dem Gehweg, dafür aber kostenlos auf Parkplätzen abgestellt werden, für die Autofahrer:innen zahlen müssen. Die CDU, die sich in Umfragen zuletzt etwas von Grünen und SPD absetzten konnte, hat in der Hauptstadt jetzt „Berlin ist für alle da. Auch für Autofahrer“ plakatieren lassen.Ein Herz für Autofahrer hat auch Giffey – ihre SPD will aber jetzt auch Fußgänger in den Fokus der Verkehrspolitik stellen – und zielt dabei auf Jarasch: die habe es versäumt, die Flut an E-Scootern, die Fußgängern weiter das Leben schwer mache, zu begrenzen. Gerade überreichte das Bündnis EINE S-Bahn für ALLE der Verkehrssenatorin mehr als 10.000 Unterschriften – es fürchtet, dass die Ausschreibung von großen Teilen des Berliner S-Bahn-Netzes zu dessen Vergabe an unterschiedliche Betriebe, zu Privatisierung und Zerschlagung führt.Eigentlich spricht sich Jarasch für einen stärkeren Staat aus, steht voll hinter dem rot-grün-roten Kurs, die Energieversorgung der Stadt weiter zu rekommunalisieren, und verspricht beim Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI), zwei Milliarden Euro in deren Transformation investieren zu wollen.An ihrem Wahlprogramm haben die Grünen seit 2021 wenig geändert. Nur die Haltung zur CDU (Koalition ausgeschlossen) und zum Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne (Die Spitzenkandidatin ist dafür) ist eindeutiger geworden. Giffey erklärt derweil beim VBKI: „Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, mich für Enteignungen einzusetzen.“ Wer auf neue Dynamik in Sachen „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ hofft, dürfte einen Wechsel an der Stadtspitze also wohl eher begrüßen. Wobei der Glaube daran, dass Grüne ihre Versprechen nach einer Wahl halten, mit der Räumung von Lützerath sicher auch in Berlin nicht gestiegen ist.Die grüne Übernahme des Roten Rathauses galt in der Vergangenheit schon mehrmals als wahrscheinlich, vor allem 2013, mit Renate Künast als Spitzenkandidatin, für die Bettina Jarasch in den früheren 2000er Jahren als Referentin in der Grünen-Bundestagsfraktion gearbeitet hatte. Damals aber brachen die Umfragewerte der Grünen umso mehr ein, je näher der Wahltag rückte.