Demo in Leipzig Die Konten sind leer, die Preise steigen weiter. In Leipzig kamen 5.000 Menschen zusammen, um ihre Verzweiflung über unbezahlbare Energie und ihre Angst vor der Armut zu teilen
Linker Protest in Leipzig: Die Wut richtet sich vor allem gegen die Grünen
Foto: Jan Woitas/picture alliance/dpa
Ein wenig verloren stehen sie in kleinen Grüppchen auf dem Augustusplatz in Leipzig und warten darauf, dass es losgeht. Gregor Gysi hat sich angekündigt, genauso wie Sören Pellmann, Amira Mohamed Ali und Martin Schirdewan: Die Linkspartei ruft an diesem Montag Anfang September nach Leipzig, um einen „heißen Herbst“ des Protests gegen die Krisenpolitik der Ampel zu eröffnen. Wer kommt, wenn die Linke ruft? Knapp eine Stunde vor Beginn der Kundgebung sieht man zunächst nur Parteimitglieder und Aktivistinnen: der Sozialistisch-Demokratische Studierendenverband (SDS), Linke-Fahnen, ein Schwarzer Block. Doch langsam füllen sich die Lücken mit dem, was Politiker:innen gerne „die Mitte der Gesellschaft“ nennen.
Das sind vor allem viel
allem viele Rentner:innen: jener Teil der Gesellschaft, der bis zum dritten Entlastungspaket in dieser Krise nahezu vollständig leer ausgegangen ist und nun mit einer 300-Euro-Einmalzahlung bedacht werden soll. Etwas abseits auf dem Platz steht ein Ehepaar: Sie ist klein und zierlich, ihr Gesicht von Falten gezeichnet, die bei jeder Beschwerde über die Politik der Ampel lebhaft mitgehen. Ihr Mann ist mindestens zwei Köpfe größer als sie, in ein dunkelblaues Polohemd und beige Khaki-Shorts gekleidet, keine Socken in den Sandalen. Noch ginge es, erzählen sie. „Aber wir haben Angst, dass wir uns das Leben bald nicht mehr leisten können“, deshalb wären sie hier. „Ein kleiner Laib Brot für 4,40 Euro. Wer soll das denn noch zahlen können?“ Das Ehepaar hat Kinder und Enkelkinder. Die Enkel wären aktuell auf Unterstützung im Studium angewiesen. „Eigentlich übernehmen das ja die Eltern, also unsere Kinder. Aber die wissen langsam auch nicht mehr, woher sie das Geld nehmen sollen bei den Preisen für Lebensmittel und Gas. Also versuchen wir einzuspringen.“ Lange könnten sie sich das nun auch nicht mehr leisten, ergänzt ihr Mann.Ihre Wut richtet sich vor allem gegen die Grünen. Nicht nur wegen der unverschämten Tipps zum Energiesparen, die derzeit von ihnen kämen – Waschlappen und wahlweise kalte oder kurze Duschen –, sondern auch wegen ihrer Positionierung im Krieg Russlands gegen die Ukraine. „Dass die einmal einen Krieg und Waffenlieferungen befürworten würden“, der Mann schüttelt den Kopf. Diplomatie und Verhandlungen für einen Frieden würden sie gerne sehen – stattdessen? Nur Kriegsrhetorik.Rechtsextreme demonstrieren auf der anderen StraßenseiteDiese Kritik wird auf dem Platz geteilt. Schilder fordern Friedensverhandlungen und ein Ende der Waffenlieferungen. „Gerade Deutschland mit seiner besonderen Geschichte darf keine Waffen liefern“, macht auch Gregor Gysi auf der Bühne klar. Kritik an der Russland-Politik der Bundesregierung weht aber auch von drüben herüber – von der anderen Seite des Augustusplatzes. „Warum diese Spalterei jetzt aber wieder sein muss, das verstehe ich nicht“, sagt die Rentnerin, sie blickt dabei rüber: hinter die Straßenbahnschienen, die heute die linke Kundgebung von jener der Rechtsextremen trennt. Drüben: die grün-weißen Fahnen der „Freien Sachsen“, Deutschlandfahnen, ein, zwei schwarz-weiß-rote Reichsfahnen. Hüben: rote und lila Fahnen. Beinahe ein wenig zu platt, dieses Bild. Jedenfalls unmöglich, sich aus Versehen auf der falschen Demonstration wiederzufinden.Die zierliche Rentnerin mit den lebhaften Falten findet das schade. Mit einem Blick zu der rechtsextremen Splitterpartei der „Freien Sachsen“ meint sie: „Ich fand das sehr gut, was sie dort gesagt haben. Natürlich wären wir viel stärker, wenn wir alle gemeinsam demonstrieren würden.“ Stört es sie nicht, dass die Partei als rechtsextrem eingestuft wird? Jetzt schaltet er sich ein: „Ich habe nichts Rechtsextremes gehört.“ Sie würde außerdem einmal interessieren, was das überhaupt bedeutet, rechtsextrem. Störend fänden sie eher die Linksradikalen, die sich hier tummeln. „Wir mögen lieber junge Leute, die sich engagieren, wie hier der SDS. Aber diese Jugendlichen, die nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen und deshalb randalieren …“ Sie winkt ab.Dass die Demonstration ausgerechnet an einem Montag stattfinden sollte, hat im Vorfeld zu Kontroversen geführt. Für die Linkspartei bezieht sich der Montag auf Demonstrationen gegen den Sozialabbau im Zuge der Hartz-IV-Reformen von 2004: Damals gingen in vielen Städten jeden Montag Tausende auf die Straße, und obwohl sich auch damals einige Rechte beteiligten, gelang es der Linken (damals: PdS) schließlich, bei den Sozialprotesten den Ton anzugeben. Seit 2014/15 steht der Montag aber auch im Zusammenhang mit rechten Protesten wie Pegida. Seit die Linkspartei einen Herbst des Protests von links gegen die soziale Schieflage in der Krise angekündigt hat, wird von rechts versucht, auf den Zug aufzuspringen und zumindest den Eindruck einer Querfront zu vermitteln. Auf Twitter verbreitete sich eine Rednerliste, in der die „Freien Sachsen“ Sören Pellmann und Gregor Gysi als Redner aufgestellt hatten, neben Jürgen Elsässer vom rechtspopulistischen Compact-Magazin. Inzwischen läuft deswegen ein gerichtliches Verfahren.„Eigene Inhalte haben die ‚Freien Sachsen‘ keine“, meint Karla Zierold vom SDS. Das stimmt nicht ganz, einen Punkt haben sie in diesen Tagen durchaus: Immerhin beklagen sie laut, dass die Linken nicht mit ihnen zusammen gegen die Regierung protestieren möchten – und das wäre doch so dringend nötig. Die linke Demo hingegen ist an diesem Abend sehr damit beschäftigt, sich von den Rechten abzugrenzen. Zwischen der Straßenbahn und der Kundgebung rollen Antifaschist:innen vor Demobeginn ein riesiges Transparent in Richtung „Freie Sachsen“ aus: „Es gibt keine Solidarität von rechts“. Sämtliche Redner:innen betonen, die Rechten seien Teil des Problems und nicht der Lösung. Das sind die Momente, in denen manche der sonst frenetisch Klatschenden hier mit verschränkten Armen stehen bleiben, selbst wenn es Gregory Gysi ist, der diesen antifaschistischen Standpunkt erklärt. Anders wird die Stimmung, als Amira Mohamed Ali ans Rednerpult tritt, Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Sie ist wütend, und zwar so richtig. Das Entlastungspaket? Ein einziger Hohn! Die grünen Ratschläge zum kürzeren Duschen ebenso. Wo sollen die Leute denn bitte noch sparen, sie sparen doch seit Jahren ohnehin schon, weil alles viel zu teuer ist! Großer Beifall, die Menge bebt. Diese Wut wird gefühlt, hier auf dem Platz.„Unser Konto ist im Dauerminus“Neben den Rentner:innen haben sich hier viele sehr junge Menschen versammelt: Die Universität Leipzig liegt nur einen Steinwurf entfernt. Die Studierenden erzählen von Krisengesprächen in WGs: „Da wird diskutiert, wer noch Eltern hat, die vielleicht einen 50er mehr im Monat abgeben können. Viele hatten schon vor der aktuellen Krise am Ende des Monats nur noch zehn Euro auf dem Konto“, sagt Marlen Borchardt, die sich beim SDS engagiert. „Es gibt WGs, die planen, nur noch ein Zimmer zu beheizen, in dem sie dann zusammen sitzen – mehr warme Räume werden ihnen zu teuer.“Auch die Universitäten überlegen inzwischen, ob sie im Winter wieder auf Online-Unterricht umstellen müssen, weil sie als öffentliche Gebäude keine Priorisierung erfahren und das Heizen womöglich zu teuer wird. Die Flucht in eine warme Bibliothek hätte sich damit für Studierende erledigt. Nach Corona also erneut Vereinsamung, wieder steigende Kosten und noch immer unsichere Beschäftigung, weil viele ihre Nebenjobs in der Pandemie verloren haben. Wut und Verzweiflung liegen an diesem Montagabend eng beieinander.Zwei, die genau wissen, wie es sich anfühlt, von der Regierung abgehängt zu werden, sind Dennis und Helena. Sie sind jung, Mitte 20, und verzweifelt. „Wir sind hauptsächlich wegen des 9-Euro-Tickets hier“, erzählt Dennis. „Aber auch allgemein, wir können uns einfach nichts mehr leisten.“ Die zwei waren schon vor der Krise in keiner komfortablen Lage. Dennis hat in Magdeburg Medienbildung studiert, ein Fach, das sich mit aktiver Medienarbeit an Schulen befasst, also sehr spezialisiert ist. Eigentlich eine Spezialisierung, die in der Pandemie dringend gefragt ist. Sollte man zumindest meinen. Einen Job hat er trotzdem nicht gefunden. Dennis gibt derzeit Erste-Hilfe-Kurse und überlegt, noch einmal etwas anderes zu studieren. Helena neben ihm hat seit ihrer Jugend mit psychischen Problemen zu kämpfen, kann deshalb nicht voll arbeiten und bezieht Hartz IV. Sie gibt freiberuflich Nachhilfe beim Bund für Lernförderung. „Dort kommen viele Familien mit Migrationshintergrund hin, die Unterstützung brauchen,“ erzählt sie.Entlastungspaket beruhigt Menschen nichtDie steigenden Kosten von Lebensmitteln machen ihnen akut zu schaffen. „Ich habe mich schon daran gewöhnt, dass das Konto einfach im Dauerminus ist“, sagt Helena. „Die Politik sieht Menschen wie uns nicht. Deshalb sind wir hier.“Eine richtige Erleichterung wäre für sie das 9-Euro-Ticket gewesen, meint Dennis. „Damit konnten wir problemlos die Familie besuchen. Jetzt ist es schon wieder viel zu teuer.“ Bei zwei Stunden Autofahrt und den aktuellen Spritpreisen können sie das finanziell einfach nicht stemmen. Dennis bekommt von seinem Arbeitgeber eine Kilometerpauschale, wenn er für die Arbeit fahren muss. „Erhöht wurde die nicht, obwohl der Sprit immer teurer wird.“ Sie hätten Glück, dass sie Familienmitglieder haben, die ihnen immer wieder ein bisschen Bargeld zustecken können. „Aber wie viele, die in unserer Situation sind, haben das schon?“, fragt Helena. Und auch das könnte schwieriger werden, wenn die Preise weiter steigen.Das Entlastungspaket der Bundesregierung, das spürt man auf dem Augustusplatz, konnte die Menschen hier nicht beruhigen. 50 Euro mehr Hartz IV, das reiche nicht. Helena erinnert sich an die Pandemie: 30 Euro habe es für Hartz-IV-Bezieher dafür gegeben, in der Pandemie Masken zu kaufen. Ein Witz. „Wir sind wirklich verzweifelt und wissen nicht, wie wir weiter über die Runden kommen sollen“, sagt Dennis, „und die Regierung sieht uns nicht.“ Für fast jeden Tag in der kommenden Woche hat die Linkspartei Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Krisenpolitik angemeldet. Dennis und Helena tut das gut: „Wenn ich die Redner hier höre, habe ich das Gefühl, die sehen uns. Hier sind tatsächlich Leute, die für uns kämpfen“, sagt Helena. Dann wollen sie ganz dringend weiter, den Anschluss an die Demo nicht verlieren.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.