Tier des Jahres Gartenschläfer: Elegant wie Zorro und trickreich in der Feindesabwehr
Lexikon Der Gartenschläfer, so sollte man meinen, hat sich den Titel „Tier des Jahres“ allein durch seine Niedlichkeit verdient. Erhalten hat er ihn aber vor allem, weil er stark gefährdet ist. Alina Saha hat sich an seine Fährte geheftet
Der Gartenschläfer trägt Zorros Maske um die Augen
Foto: W. Layel / picture alliance / blickwinkel
A
wie Artensterben
Auch mit Blick auf den Klimawandel wird seit einigen Jahren sehr viel mehr über das große Artensterben gesprochen sowie seine Bedrohung für unsere Ökosysteme und das Leben auf dem Planeten. Schuld ist daran eigentlich fast immer, ob direkt oder indirekt, der Mensch. Dass auch die Gartenschläferpopulation rückläufig ist, hat einige menschengemachte Gründe: Der natürliche Lebensraum des Nagetiers nimmt ab, sein Verbreitungsgebiet ist in den letzten 30 Jahren in Deutschland um 50 Prozent zurückgegangen. Rückläufig ist die Population hier allerdings seit 150 Jahren, bereits 1900 galt er etwa in der Oberlausitz als verschwunden. Inzwischen trifft man ihn hauptsächlich im Südwesten Deutschlands und der →
lands und der → Bilch steht auf der Roten Liste gefährdeter Arten. Um auf das nahezu unbemerkte Verschwinden der niedlichen Tierchen aufmerksam zu machen, hat ihn die Deutsche Wildtier-Stiftung 2023 zum „Tier des Jahres“ erklärt. Wie so oft war die Schweiz schneller: Hier trug das Nagetier bereits 2022 diesen Titel.Bwie BilchBilch ist ein merkwürdiges Wort. Es reimt sich auf Milch, hat damit nichts zu tun, und anders als „Gartenschläfer“ kann man sich überhaupt nicht vorstellen, was damit gemeint sein soll. Kurze Erklärung: Bilche sind eine Familie der Nagetiere, die auch als Schlafmäuse bekannt sind, was schon deutlich bildhafter klingt. Zu den Unterfamilien gehören neben dem Gartenschläfer der Siebenschläfer, die Haselmaus, außerdem verschiedene Arten von Bilchen in Afrika und Ostasien. Über die Herkunft des Wortes „Bilch“ versucht das etymologische Wörterbuch Auskunft zu geben: Es ist aus dem Slawischen entlehnt und seit dem 11. Jahrhundert belegt. Vom altdeutschen „bilih“ entwickelte es sich dann zum mittelhochdeutschen „bilch“ und blieb seither stabil. Nur, was das Wort „Bilch“ als solches jetzt bedeuten soll (→ Hörnchen), verrät das Wörterbuch nicht.Fwie FeindeAls Kulturfolger, der von seinem natürlichen Lebensraum in menschlich geschaffene Räume wie Städte umgezogen ist, stellt sich der Bilch immer wieder neuen Feinden. In der Wildnis sind es meistens Raubvögel wie Käuze oder Eulen, aber auch Marder und Füchse, die zur Gefahr werden. In der Stadt sind die Gefahren, wie könnte es anders sein, häufig menschengemacht. Hauskatzen jagen die Schlafmäuse mit genauso viel Freude wie echte Mäuse. Einen großen Unterschied macht es für sie nicht, immerhin sehen sich Bilche und Mäuse sogar ähnlich. Andere kreative Formen der Gefahr für kleine Nagetiere hat der Mensch ganz unbeabsichtigt nebenbei entwickelt: Autos, Rattengift oder Obstnetze, in denen Tiere verenden können. Eine klassische Falle und für Gartentiere ebenso ein unnatürlicher Feind wie für andere Kleintiere ist die ökologisch einwandfreie Idee der Regentonne: Einmal hineingeplumpst, ertrinkt der Gartenschläfer darin. Wer den kleinen Nager schützen möchte (→ Zorro), sollte die Tonne immer abdecken.Gwie GartenAnders als der Name vermuten lässt, lebt der Gartenschläfer eigentlich nicht im Garten. Seine natürliche Heimat sind Wälder mit dichter Bodenvegetation, wenig Forstwirtschaft, nah an Gewässern mit Versteckmöglichkeiten in Höhlen, Felsspalten oder Totholz. Weil diese Lebensräume schon länger abnehmen, mussten die Gartenschläfer umziehen und zu Kulturfolgern werden. Guten Ersatz boten ihnen lange landwirtschaftliche Räume mit Obstwiesen, Hecken und Scheunen. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft zogen die Nagetiere weiter bis in die städtischen Räume. Beliebt sind hier naturnahe Gärten mit Hecken und Beerensträuchern. Als Nagetieren steht es ihnen außerdem zu, auf menschliche Intentionen zu pfeifen und anstelle von Singvögeln in Nistkästen zu ziehen. Das dazugegebene Vogelfutter (→ Omnivor) nehmen sie schamlos gleich mit.Hwie HörnchenBei der Namensgebung des Gartenschläfers ist einiges schiefgegangen. Zwar schläft er viel, aber weder ist er ein natürlicher Bewohner des Gartens noch, wie die Familie der Bilche beziehungsweise Schlafmäuse vermuten lässt, eine Maus. Nicht, dass die zwei gar nicht verwandt wären, außerdem sind sich Bilchköpfe und Mausköpfe keineswegs unähnlich. Insbesondere der Gartenschläfer wirkt nah verwandt. Hier ähnelt nicht nur der Kopf, sondern auch der → Schwanz der mäusischen Anatomie. In nächster Verwandtschaft findet sich aber ein anderes Nagetier, das genau wie der Gartenschläfer den Umzug vom Wald in die menschlichen Siedlungen unternommen hat: das Eichhörnchen. Bilche gehören in der biologischen Klassifikation in die Unterordnung der „Hörnchenverwandten“, werden also, wie abschätzig (!), durch ihre Verwandtschaft zu bekannteren und beliebteren Tieren definiert. Wenigstens Bilche wie der Siebenschläfer sehen den Hörnchen ähnlich: Der Schwanz ist genau so buschig und agil und ziemlich flauschig.Owie OmnivorWer so viel Zeit mit Schlafen verbringt wie der Gartenschläfer, kann sich seine Mahlzeiten nicht aussuchen. Die kleinen Nager sind Omnivoren und fressen alles, was sich gerade anbietet: wirbellose Insekten, darunter auch Tausendfüßler und Spinnen, genauso wie Früchte, Beeren oder Obst, Samen und Kerne. Hin und wieder gehören aber auch kleine Wirbeltiere wie die nur unwesentlich kleineren Mäuse auf den Speiseplan (→ Rom). Und auch Klein- oder Singvögel und deren Eier sind vor ihnen nicht sicher. In menschlicher Umgebung frisst der Gartenschläfer außerdem auch Vogelfutter. Ob direkt, indem er es aus den Vogelhäusern oder Nistkästen stibitzt, in die er einzieht, oder indirekt, indem er den ganzen Vogel auffrisst, ist dabei wohl irrelevant. Hauptsache, vor dem Winterschlaf ist die Speckschicht dick genug.Rwie Rom„Die spinnen, die Römer“, das wussten schon Asterix und Obelix. Dass die kulinarischen Geschmäcker vor ein paar tausend Jahren noch andere waren, sollte außerdem auch klar sein. Und über die verqueren Ansprüche der Oberschicht an ihre Mahlzeiten muss auch niemand erinnert werden, der einmal die Speisekarte eines vom Guide Michelin prämierten Fine-Dining-Restaurants gelesen hat. Im alten Rom gehörten auch Bilche auf den Speiseplan der Upperclass. Gartenschläfer und andere Bilche wurden in eigens dafür entwickelten Terracotta-Behältern gehalten und gemästet. Zubereitet wurden die Tiere meistens im Ofen, und serviert wurden sie als Zwischenmahlzeit. Diese Delikatesse konnten sich im antiken Rom nur die Reichen gönnen. Der Aufwand für das bisschen Essen war schlichtweg zu groß. Die Idee, möglichst viel Arbeit in wenig Nahrung zu stecken, lebt heute im Fine Dining weiter. Für den Eintrag des Gartenschläfers auf der Roten Liste (→ Artensterben) kann man die alten Römer mit ihren kulinarischen Präferenzen allerdings nicht verantwortlich machen.Swie SchwanzAnders als beim Siebenschläfer ist der zehn bis 14 Zentimeter lange Schwanz des Gartenschläfers relativ schlank und mit kurzen Haaren versehen. Nur am Ende befindet sich eine breitere Quaste. Gartenschläfer sind wahre Kletterkünstler und nutzen ihren Schwanz, um sich dabei zu stabilisieren und das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Von außen nicht erkennbar ist die Sollbruchstelle in der Schwanzhaut, an der er abbrechen kann. Greift oder schnappt ein Feind nach dem Gartenschläfer, ergattert er so womöglich nur einen winzigen Bissen Schwanz, und das Tier kommt davon. Gegen natürliche Fressfeinde wie Eulen hat sich das sicherlich schon als praktisch erwiesen. Gartenschläfer, denen die Quaste fehlt, haben zumindest einmal ein Raubtier getäuscht. Gegen neue → Feinde wie Regentonnen ist so ein abbrechbarer Schwanz leider keine Hilfe.Wwie WinterschlafStolze sieben Monate verbringt der Gartenschläfer mit Schlafen. Wenigstens an diesem Punkt trifft die Namensgebung (→ Bilch) den Nagel auf den Kopf. Während dieser sieben Monate verliert so ein Tierchen schon mal die Hälfte des eigenen Körpergewichts. Dafür muss vorher ordentlich gefressen werden, denn eine dicke Speckschicht ist unerlässlich. Die Hälfte der Jungtiere überlebt den ersten Winterschlaf nicht. Obwohl die Tiere schnell das elterliche Nest verlassen, kehren sie für ihren Winterschlaf übrigens noch einmal in dieses zurück. Gemeinsam wird sich dann im Nest eingekuschelt. Dabei formen die Gartenschläfer ihren Körper in eine Kugel, deren Rundung der Schwanz abschließt. Über den Winterschlaf kann die Körpertemperatur der Bilche auf bis zu minus ein Grad sinken. Rekordverdächtig. Stoffwechsel und Kreislauf werden heruntergefahren, bis das Herz nur noch zweimal die Minute schlägt. Nur Gartenschläfer, die in Spanien leben, machen keinen Winterschlaf. Wozu auch, da bleibt es im Winter meistens mollig warm.Zwie ZorroJeder weiß, dass Wiedererkennungswerte in einer auf Oberflächlichkeiten getrimmten Gesellschaft wie der unseren überlebenswichtig sind. Selbst dem Gartenschläfer ist anscheinend klar, dass er sich um ein gutes Image bemühen muss. Deshalb hat er sich auf seinem Fell eine Maske um Augen und Ohren zugelegt, die der des Helden Zorro gleicht. Das verspricht Aufmerksamkeit und einen niedlichen Spitznamen, der so gar nicht zu einem kleinen Allesfresser passt, der Vögeln die Wohnung nimmt und ihre Eier frisst (→ Omnivor). Bekanntheit wäre dem Tier aber sicherlich auch ohne seine Verbindung zum „Rächer der Armen“ zugestanden worden. Mit seinen großen Ohren, dem rotbraunen Fell, den rosa Pfötchen und der Neigung, sich für den Winterschlaf zu einer Kugel zusammenzurollen, ist der Gartenschläfer einfach unglaublich niedlich.