„Wo ein Wille ist, ist oft (k)ein Weg“

Bühne In "Auf der Straße" schleudern Schauspieler und soziale Benachteiligte dem Publikum knallharte Fakten aus dem täglichen Überlebenskampf der sozialen Unterschicht entgegen

Sie dreht sich weiter, immer weiter. Die Drehscheibe auf der Bühne. Mit den Sitzbänken, die für manche Betten sind. Genau wie der Kreislauf des Lebens, der die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Menschen, die Tafelgänger, gefangen hält. Sie sind Gefangene einer Endlosschleife der Armutsökonomie – in einem der wohlhabendsten Länder der Welt.

„Auf der Straße“ ist das erste Stück der US-amerikanischen Theaterregisseurin Karen Breece am Berliner Ensemble, das sie zusammen mit Berliner wohnungs- und obdachlosen Menschen inszeniert hat. Mit den Worten des athenischen Reformers Solon und dessen Aufruf zu mehr Eunomia, Wohlgesetzlichkeit, gelingt dem Stück ein imposanter Einstieg. Breece, die aus dem Bereich des politisch-dokumentarischen Theaters kommt, hat mehrere Monate lang mit Obdachlosen, mit auf staatliche Unterstützung angewiesenen Menschen und Menschen, die sich genau um diesen Teil der Bevölkerung kümmern, zahlreiche Gespräche geführt. So kommt es, dass der Obdachlose René Wallner, der in Wirklichkeit anders heißt und der in einem Kircheneingang in Berlin-Mitte wohnt, der ehemalige Obdachlose Psy Chris und die robuste, liebenswürdige Alexandra Zipperer, die so herzlich lachen kann, obwohl ihr nur 70 Euro im Monat zum Leben bleiben, zusammen mit Bettina Hoppe und Nico Holonics, Schauspielern des Berliner Ensembles, auf der Bühne stehen. Zwei Mal werden sie dabei von dem integrativen Chor „Different Voices of Berlin“ begleitet und immer wieder durchbricht laute, schrille Technomusik die fortwährende Alltagsmonotonie. Hier soll das aufregende Berliner Partyleben mit dem Leben auf der Straße kontrastiert werden.

Anschaulich, ergreifend und ohne Beschönigung schleudern sie dem Publikum Alltagsszenen und knallharte Fakten aus dem täglichen Überlebenskampf der sozialen Unterschicht ins Gesicht. Wie Mitarbeiter des Hygienecenters am Bahnhof Zoo über drei Stunden lang den festgewachsenen Kot vom Körper eines Mannes kratzen. Wie der 'weiße, reiche, alte Mann' der minderjährigen Obdachlosen auflauert und wie die alleinerziehende Mutter versucht, ihrer kleinen Tochter ab und zu Mal ein Stück Obst oder ein Eis zu kaufen. Bettina Hoppe und Nico Holonics unterstützen die drei Laiendarsteller, indem sie versuchen ihre Wut, ihre Verzweiflung oder ihre völlige Resignation zu verstehen, nachzuempfinden und nachzuspielen. Aber als Psy Kindheitserinnerungen voller Gewalt und Alkohol aus seinem Tagebuch vorliest, bricht Bettina Hoppe ab. Das könne sie nicht darstellen, das sei für sie unvorstellbar, erklärt sie. „Denk einfach an einen schrecklichen Autounfall“, entgegnet Psy.

Am Ende schämt man sich fast

Mehrmals wird so dezidiert auf die Inszenierung, auf das Spielen selbst verwiesen. Mehrmals wird die vierte Wand durchbrochen und das Publikum, die intellektuelle, theateraffine Mittel- und Oberschicht, direkt angesprochen. Und vorgeführt. Wie es sich um das Verpassen des Yogatermins oder die Öffnungszeiten des Biosupermarktes ärgert, während andere in ständiger Sorge darum leben, wo sie am nächsten Tag schlafen können und ob sie wenigstens eine warme Mahlzeit kriegen. Auch Sozialämter, Krankenversicherungen und Politiker, die sich „ja nicht um alles kümmern können“ und deren Aufgabe es ist, die Gesellschaft vor den Obdachlosen, die „nur Couchsurfing“ betreiben, zu schützen, werden immer wieder angegriffen. Es ist fast komisch, wenn es nicht so tragisch wäre und eigentlich bleibt einem das Lachen auch im Halse stecken.

Am Ende geht man nach Hause und schämt sich fast, dass man sich nun auf die gemütliche Couch legt und nicht neben René auf die harte Parkbank. Man kauft sogar den Karuna Compass, die neue Berliner Obdachlosenzeitung, und nimmt sich vor, das bald wieder zu tun. Viel Neues zeigt „Auf der Straße“ trotzdem nicht. Das zutiefst erschütternde Leid der Obdachlosen und die unfassbare Ignoranz des Staates sind schon lange ein offenes Geheimnis. Aber viel geändert hat sich daran auch nichts. Und so dreht es sich weiter, das Rad der Mittellosen. Für sie gilt – mit Alexandras Worten – weiterhin: „Wo ein Wille ist, ist oft (k)ein Weg“.

Info

Auf der Straße Regie: Karen Breece Berliner Ensemble

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