Suheilas Geheimnis

Feminismus Eigentlich sollte die Beduinin Suheila Abu Rkeek Hausfrau sein. Sie kämpfte und hätte alles geopfert, um arbeiten zu können
Ausgabe 29/2020

Die Geschichte von Suheila Abu Rkeek könnte eine Fabel sein. Eine Fabel über Mutterliebe und die Kraft, mit der eine Frau für ihre Kinder kämpfen kann. Gleichzeitig ist Suheilas Geschichte eine Geschichte des Feminismus, über Frauen, die sich nehmen, was ihnen zusteht. Und sie erzählt die Geschichte einer Bevölkerungsminderheit Israels. Suheila ist Beduinin.

Die 49-Jährige wohnt in Tel Scheva, einer kleinen Stadt neben Be’er Scheva, im Süden Israels. Be’er Scheva ist ein international wichtiger Standort für IT-Start-ups, mehr als 100 Unternehmen haben ihren Sitz in der verschlafenen Wüstenstadt. Tel Scheva ist, so könnte man sagen, der böse Zwilling Be’er Schevas.

Die Armut sieht man der beduinischen Stadt an. Viele der Häuser im Ort sind aus Wellblech zusammengeschustert, dazwischen rennen Hühner umher. Die festen Häuser, die es gibt, stehen teilweise verlassen da, unfertige Bauprojekte, die warten, dass jemand sich an sie erinnert. Die Männer, die durch den Ort gehen, tragen das traditionelle Kopftuch, die Kufiya. Auf einer staubigen Fläche zwischen zwei Straßen ist ein Kamel angebunden.

Frau als Ernährerin

In Tel Scheva leben viele, die bis vor einigen Jahren oder Jahrzehnten noch nomadisch lebten, keinen festen Wohnsitz hatten. Doch das ist schwer in einem hoch regulierten Staat wie Israel. Für das kleine Land ist die Wüste Negev, traditionell Heimat der israelischen Beduinen, wertvolles Land. Sie macht etwa sechzig Prozent des israelischen Staatsgebietes aus. Die Beduinen Israels beanspruchen das Land für sich. Doch schon seit Jahrzehnten beachtet die israelische Regierung diese Forderungen nicht. Deren Strategie lautet seit einem halben Jahrhundert: Urbanisierung. Städte wurden gebaut, in denen die Beduinen Zugang zu medizinischer und sanitärer Versorgung und Bildung bekommen sollten. Eine dieser Städte, in denen heute etwa die Hälfte der Beduinen Israels lebt, ist Tel Scheva. Nomadisch leben die Menschen in Tel Scheva nicht. Städtisch jedoch auch nicht.

Suheila Abu Rkeek ist im traditionellen beduinischen Kontext aufgewachsen. Die Schule hat sie nicht beendet. Das sei nicht nötig, wenn man ohnehin Hausfrau werden soll. Sie sitzt auf dem Grundstück ihrer Familie in Tel Scheva in einem selbst gebauten Unterstand und erzählt. Es gibt heißen Pfefferminztee aus Pappbechern.

Erst mit Anfang 20 habe sie geheiratet – ein verlorener Kampf gegen ihren Vater. Sie wollte einen Mann, in den sie sich verliebt hatte. Einen Mann, der ihrem Vater nicht gefiel. „Lange bin ich störrisch geblieben“, erzählt Suheila. Doch am Ende gab sie nach, heiratete den Mann, den ihr Vater vorschlug. Noch immer sind die beiden verheiratet. Aber dieser Mann weiß nicht einmal die Hälfte von dem, was Suheila in den vergangenen Jahren erreicht hat.

Angefangen hat alles mit Suheilas Schwester. Mit ihr war der Vater weniger streng als mit Suheila. Miriam Abu Rkeek hat in Israel ihren Schulabschluss gemacht – um dann in Großbritannien zu studieren. Unverheiratet. Mit einem Bachelor in Business Administration in der Tasche kam sie zurück – in einem Alter, in dem die anderen Frauen ihrer Gemeinschaft längst verheiratet waren. Auch Miriam sollte endlich einen Mann finden. Zumindest, wenn es nach ihrem Vater ging. Miriam selbst war anderer Meinung. Sie bekam Hausarrest und durfte das Dorf ihrer Eltern, ihre Heimat, nicht mehr verlassen. Acht lange Jahre war sie mehr oder weniger gefangen. Sie wollte etwas tun. In der Küche ihrer Eltern ließ sie sich von ihrer Großmutter all die Rezepte zeigen, nach denen Beduinen traditionell Körperpflegeprodukte herstellten: Seifen, Haarpflegeöl, Schmerzöl. Sie verkaufte, erst im kleinen Rahmen. Doch das Interesse an Miriams Seifen wuchs.

Bald kamen täglich touristische Gruppen in das große Zelt in Tel Scheva, das Miriam für ihr Geschäft gebaut hatte. Sie kauften Seifen und ließen sich beraten. Schnell waren es zu viele. Als sie 35 Jahre alt war, sprang Suheila ein, um ihrer Schwester zu helfen. Eine verwegene Idee in einer Stadt, in der die meisten Frauen nach der sechsten Klasse die Schule verlassen, um ihr Leben lang Hausfrau zu sein. Suheila erzählt davon mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen.

Ihr Mann habe reagiert, indem er sie aus dem gemeinsamen Haus herausschmiss: „Wenn du arbeiten willst, dann nicht unter meinem Dach!“ Suheila nennt es heute „ihre Revolution“. Drei Monate lang lebte sie wieder bei ihren Eltern. Dann gab ihr Mann auf und akzeptierte, dass seine Frau arbeitete. Er hatte jedoch eine schwerwiegende Bedingung: Wenn sie schon arbeiten wollte, dann sollte sie die Ernährerin sein. „Das war meine Strafe“, erklärt die Frau.

Das Geld, das sie verdiente, reichte nicht aus, um die ganze Familie zu ernähren. Suheila hat sechs Kinder, einen Jungen und fünf Mädchen. Um ihr Einkommen aufzubessern, begann Suheila, Hühner zu züchten, die sie gemeinsam mit ihren Töchtern ausnahm und rupfte. Das Fleisch verkauft sie an andere Frauen im Dorf.

Unabhängig von den Finanzen bahnte sich das nächste Problem an. Ihre älteste Tochter war gerade in die sechste Klasse gekommen. Ihr Mann wollte, dass das Kind von der Schule abging – wie die meisten Mädchen der Gemeinde. Suheila war dagegen. Sie hatte bei ihrer Schwester gesehen, wohin Bildung eine Frau führen konnte.

Also begann Suheila, mit ihrem Mann zu verhandeln. Wenigstens bis zu neunten Klasse, sagte sie, solle ihre Tochter die Schule besuchen. Nein, sagte ihr Mann. Aber Suheila wollte nicht klein beigeben. Schon einmal hatte sich gegen ihren Mann durchgesetzt. Sie bat ihre Familie um Hilfe.

Suheilas Vater – der immerhin eine seiner Töchter zum Studieren nach Großbritannien geschickt hatte – sprach mit ihrem Mann und versuchte, ihn zu überzeugen. Nach ein paar Tagen habe dieser schließlich eingewilligt. Zähneknirschend, erzählt Suheila. Die Tochter durfte drei weitere Jahre die Schule besuchen. Zumindest theoretisch. Praktisch, sagt Suheila, habe das Mädchen etwa ein Drittel der Schulstunden in dieser Zeit verpasst. Denn immer, wenn es zu Hause Streit über ihre Anwesenheit in der Schule gab, sei sie daheim geblieben.

Doch es kam die Zeit, in der Suheilas Tochter die neunte Klasse beendete. Gut, fand Suheilas Mann. Für ihn war der Spuk jetzt endlich zu Ende. Seine Tochter würde zu Hause bleiben, ihrer Mutter in Haushalt helfen und einen Mann suchen. Suheila hatte andere Vorstellungen. Sie wusste: Wenn ihre Tochter die zehnte Klasse beenden und damit einen Schulabschluss bekommen würde, könnte sie studieren. Eine Woche, bevor die zehnte Klasse begann, sprach sie das Thema an.

„Wir hatten einen großen Streit“, erzählt sie. Ihr Mann sei sehr wütend gewesen. „Er hat gesagt: Drei Jahre waren ausgemacht – das war es jetzt, mehr nicht!“ Doch Suheila war bereit, alles zu geben. Wirklich alles. Zuerst versuchte sie es wieder, indem sie die Familie ins Spiel brachte. Ihr Vater sprach mit ihrem Mann. Dann sogar die Schwestern ihres Mannes. Keine Chance.

Schließlicht entschied Suheila, selbst ein großes Opfer zu bringen: Die eigene Freiheit zu tauschen. Sie bot ihrem Mann an, selbst nicht mehr arbeiten zu gehen – wenn nur ihre Tochter die zehnte Klasse besuchen dürfte. Doch selbst dieses für Suheila so schmerzhafte Angebot half nicht. Ihr Mann blieb stur. Aufzuhören, zu arbeiten – dafür sei es jetzt zu spät, sagt er.

Um Druck auf ihren Mann auszuüben, schaltete Suheila den Sozialdienst ein. In Israel gibt es für junge Menschen eine Schulpflicht. Für ihren Mann ein immenser Vertrauensbruch. Zwar gab er nach und erlaubte, dass die Tochter auch die zehnte Klasse noch besuchen durfte. Aber gleichzeitig verließ er das Haus. Vier Monate lang sollte er nicht zurückkommen und die Familie damit in Unsicherheit zurücklassen. Suheila wusste nicht, ob ihr Mann wiederkehren würde. Oder wann. Und ob sie bald geschiedene Leute sein würden. Lange wurde sie im Dorf geächtet, weil sie den Sozialdienst eingeschaltet hatte. Die Frauen im Dorf sprachen nicht mehr mit ihr. Ihre Männer hatten es ihnen verboten. Suheila war ein negatives Vorbild und schlechter Einfluss.

Erfolgreich mit Catering

Und auch die Hühnerzucht lief nicht mehr so gut wie früher. Sie brachte kaum mehr Geld ein. Der Supermarkt im Dorf bot gerupfte Hühner für den halben Preis an. Suheila brauchte also einen neuen Nebenerwerb. Ihre Wahl fiel aufs Kochen. „Ich dachte mir, ich koche ohnehin immer in großen Mengen für viele Menschen, warum sollte ich das nicht auch für andere tun.“ Also startete sie einen Catering-Service. Der läuft mittlerweile sehr erfolgreich. „Jetzt bekomme ich sogar Bestellungen von außerhalb der Stadt“, erzählt sie. Regelmäßig kocht Suheila auch für Touristengruppen. Zum Essen erzählt sie ihre eigene Geschichte. Das lohnt sich. Ihre Schulden hat sie längst zurückgezahlt. Auch die Schulbildung ihrer Tochter konnte Suheila finanzieren. Mittlerweile wisse die ganze Familie von ihrem Geschäft. Alle, außer ihrem Mann. „Er weiß natürlich, dass da etwas ist“, sagt Suheila, „schließlich bekommt er schon mit, dass meine finanzielle Situation gut ist.“ Aber die Ausmaße ihres Geschäftes kenne er nicht.

Suheilas älteste Tochter lernt gerade für die Eingangsprüfungen an der Universität. Sie möchte Medizin studieren. Doch der Weg in israelische Universitäten ist lang und steinig – besonders, wenn man Medizin studieren will. Es braucht einen guten Notenschnitt. Angehende Studierende müssen außerdem in verschiedenen Tests gut abschneiden. Auch Suheilas Tochter hat diese Tests gemacht. „Insgesamt war sie wirklich gut“, erzählt Suheila, „aber ihr Hebräisch hat nicht ausgereicht.“ Das Problem, das zuerst die Mutter hatte, hat nun auch die Tochter. Dass die Beduinen Israels häufig solche Probleme mit der hebräischen Sprache haben, zeigt, wie marginalisiert sie leben.

Suheila aber träumt einen ganz anderen Traum. Irgendwann, sagt sie, würde sie gern zurück in die Wüste gehen. Wieder nomadisch leben. Sie würde sich dort gern einen kleinen Ort für sich bauen. „Nicht mehr Sklave des Telefons sein, die Stille der Wüste genießen“, sagt sie.

Ihre Schwester Miriam Abu Rkeek hat nach all den Jahren auch geheiratet. Mit 42 Jahren. Einen geschiedenen Mann, der neun Jahre jünger als sie ist. Es war ein Fest, über das die ganze Wüste Negev geredet hat, sagt Suheila. Ihren Bräutigam hatte die Schwester über ihre Arbeit kennengelernt. Sein Geschäft, fügt Suheila glucksend hinzu, sei jedoch nicht so gut gelaufen.

Alisa Sonntag ist freie Journalistin in Leipzig. Dieser Text entstand während einer Recherchereise mit dem Projekt „Researching Identity“ der Jugendpresse Deutschland

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