Umbruch Aljoscha Begrich beobachtet in Bitterfeld die Transformation ostdeutscher Landschaft und hat daraus das Kunstfestival OSTEN entwickelt. Was macht Bitterfeld für ihn aus? Ein Lexikon
Atelier Das „Atelier für gegenseitiges Interesse“ ist das Herz des Festivals OSTEN, das den ➝ Kulturpalast und den umliegenden Chemie-Park in Bitterfeld-Wolfen bis 17. Juli bespielt. Unter zusammengeknüpften T-Shirts des örtlichen Textilrecyclers findet hier ein täglich wechselndes Programm statt, das Kunst als Anlass begreift, um ins Gespräch zu kommen. „Das Atelier ist ein Ort der Begegnung“ – klingt pathetisch, aber in Zeiten der Verhärtung der Bubbles ist ein solcher Ort nötiger denn je. Mithilfe von Kunst gegen die Sprachlosigkeit und die Unkenntnis. Das Atelier ist der Eingang in den Palast. Hier finden auch die Lagerfeuergespräche zur Frage des Tages statt, wo Künstler*innen, Netzwerkpartner und Publi
Tages statt, wo Künstler*innen, Netzwerkpartner und Publikum auf Augenhöhe beispielsweise über das Erbe des Bitterfelder Weges (➝Neue Bitterfelder Wege), die Möglichkeiten von Kunst in den ländlichen Räumen oder den Zusammenhang von Klimawandel und Neofaschismus sprechen können. Es gibt aber auch Bier und Cola.BBlühende Landschaften Das Versprechen Helmut Kohls ist in seiner Komplexität und Tragik erst in Bitterfeld zu verstehen. Wenn auf dem Gelände ehemaliger Chemieanlagen heute Wildblumen blühen und Studierende dort, wo einst geschuftet wurde, Schmetterlinge bestimmen. Oder wenn am Sandstrand des Goitzsche-Sees der Bademeister erzählt, dass er hier früher mit dem Fahrrad durch eine Heidelandschaft und Dörfer gefahren ist und später durch die Mondlandschaft des Braunkohletagebaus. Jetzt schwärmt er von dem klaren Wasser. Oder an dem futuristisch anmutenden Gebäude, das einst der Eingang zum Solar Valley war und nun verlassen ist. Oder in Wolfen-Nord, wo von 35.000 Menschen noch 5.000 wohnen und einige Blocks sehr bald der Wiese Platz machen: „Schrumpfende Städte“! But learning from Detroit? Techno und DIY finden Platz in Bitterfeld.CChemietoleranz Indikator für die Bereitschaft von Menschen, chemische Anlagen, Prozesse und Abfälle in ihrer Umgebung zu dulden. In Bitterfeld ist sie traditionell hoch, die Chemie spielt bei der Entwicklung der Stadt seit 130 Jahren eine große Rolle. Die Nähe zu Berlin und die billige Braunkohle als energetische Grundlage der Elektrolyse lockten 1893 Walther Rathenau, die Elektrochemischen Werke in Bitterfeld anzusiedeln. In Wolfen startete zu Beginn des Jahrhunderts Agfa die Film-, Farben- und Faserindustrie, daraus wurde IG Farben (➝ Filmfabrik). Von hier aus wurde die Produktion von Zyklon B in Dessau gesteuert. In der DDR fasste Walter Ulbricht die zentrale Bedeutung der chemischen Industrie so zusammen: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit.“ So war es, bis 1990 mehr als 30.000 Menschen ihre Arbeit verloren.Aus den Ruinen des Chemiekombinats mit dem Park ist ein modernes Industriegebiet entstanden, mit mehr als 300 weltweiten Unternehmen. Und dort planen sie schon die nächste Transformation: weg von fossilen Brennstoffen hin zu Wasserstoff. Dafür muss die Elektrolyse nur umgedreht werden.FFilmfabrik Von Wolfen aus ging der Farbfilm in die Welt. 1936 stellte IG Farben- den ersten praktikablen Mehrschichtenfarbfilm der Welt her, den Agfacolor Neu (➝Chemietoleranz). Nachdem im April 1945 die US-Streitkräfte die Fabrik übernommen hatten, wurden Patente, Chemikalien und Aufzeichnungen beschlagnahmt. Wenige Jahre später bot Eastman Kodak einen Farbfilm an, der auf dem Wolfener Verfahren basierte. In den Folgejahren wurden 50 Prozent der Produktionsanlagen demontiert und zur Herstellung des ersten sowjetischen Farbfilms nach Schostka in der Ukraine verbracht. In der einstigen Fabrikzentrale sitzt heute übrigens das Stadtparlament – und an einem Drittel der Tische die AfD.KKulturpalast Nach der Zerstörung des Palasts der Republik ist er das wichtigste Gebäude der ehemaligen DDR. Von mehr als 5.000 Bitterfelder Arbeiter*innen in den frühen fünfziger Jahren in Eigenarbeit erbaut, war er bis 1990 das heimliche Stadtzentrum. Weil die Schichtbusse direkt neben dem KuPa hielten, konnte man nach der Schicht noch an einem ➝ Zirkel teilnehmen oder im Erfrischungsraum versacken. Im großen Saal fanden Konzerte, Theater, Betriebsfeiern oder Jugendweihen statt. Seit 2013 stand der Kulturpalast leer und war vom Abriss bedroht. 2021 konnte der kürzlich tragisch verstorbene Matthias Goßler die Mittel für eine Sanierung beim Bund einwerben.NNeue Bitterfelder Wege 1959 fand im Kulturpalast die „Bitterfelder Konferenz“ statt, auf der die SED-Parteifunktionäre den „Bitterfelder Weg“ als Leitlinie der DDR-Kulturpolitik ausgaben. Dahinter stand der Versuch, die unsichtbare Sprachgrenze zwischen Intellektuellen und Arbeiter*innen, zwischen Kunst und Industrie aufzuheben. Arbeiter*innen sollten in ihrer Freizeit zu Künstler*innen werden, Künstler*innen sollten in Betrieben arbeiten und dort Erfahrungen und Stoffe sammeln. Wenig später wurde den Funktionären deutlich, dass dies nur Probleme bringt, und die Idee wurde wieder aufgegeben. Heute stellt sich angesichts zunehmender Sprachlosigkeit, Lagerverhärtung und Verständnislosigkeit in der Gesellschaft immer mehr die Frage, ob brauchbare Elemente dieser Idee zu recyceln sind. Viele zeitgenössische Künstler*innen arbeiten an sozialer Praxis, Partizipation und Austausch – zu sehen auf dem ➝ Schubkarrenparcours.OOsten Name des Festivals, Konzept des Programms und permanenter Fragegrund: Wieso Osten? Wo liegt Osten? Und wenn Osten eine Tätigkeit ist, wie viel Kraft kostet sie? Der Osten hat viele Probleme. Der Osten ist nicht das Problem. Der Osten ist sensationell. Und der Osten, den unser Festival in Bitterfeld-Wolfen zeigt, ist komplex, vielstimmig und sinnlich. Geschichte der Arbeit und deren Spuren in der Landschaft. An der Erstauflage des Festivals an sieben Spielorten beteiligen sich rund 60 Künstler und 150 Studierende. Der DDR-Anteil in diesem OSTEN besteht lediglich in einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund und einer geografischen Einheit. Hier wird das Leben im Umbruch sichtbar (➝ Blühende Landschaften). Der Osten, ein Labor des Strukturwandels, von dem Ost und West lernen können: auf die Schnauze bekommen und weitermachen. Humor, der trotzdem lacht. Mut, Dinge anzugehen, die unmöglich scheinen, und das Sprechen über Narben.SSchubkarre So spektakulär beiläufig hat noch niemand den Kulturpalast betreten: Während des Festivals führt der Weg ins Gebäude nicht durch Portal und Foyer, sondern nimmt eine ganz andere Kurve, von hinten durchs Fenster – mit einer Schubkarre wie die Arbeiter*innen beim Bau des Hauses 1959. Benjamin Förster Baldenius von Raumlabor Berlin hat gemeinsam mit Jan Schlake und Christian Göthner einen Ausstellungsparcours durch den Palast gebaut. Weil eine Schubkarre wie das Leben ist: Wir bestimmen, wohin die Reise geht, aber irgendwie bestimmt die Karre auch unseren Gang. Und wer mit einer Schubkarre durch ein Gebäude eiert, ist auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Unterwegs gibt es viel zu tun, zu sehen und zu hören.TToxicity Bitterfeld – „schmutzigste Stadt Europas“! Hier war der Himmel orange und Menschen schlossen die Fenster, wenn sie durchfuhren. In den 80ern formierte sich hier eine Umweltbewegung, heute hat Fridays for Future hier nur vier Mitglieder, die an der Kaufhalle bespuckt werden. Die eine Milliarde Euro, die in die Renaturierung und in einige Hosentaschen gepumpt wurde, hat vieles besser, aber nicht gut gemacht: Der berüchtigte Silbersee ist nicht zu retten und wird trockengelegt, das Grundwasser ist an einigen Stellen für die nächsten Jahrhunderte verseucht. Das Anthropozän hat diese Landschaft geformt, aber die Natur hat übernommen. Abraum wurde zu Bergen, Mülldeponien zu Wäldern, der Tagebau zu einem See. Eine dritte Landschaft aus Schönheit und Toxicity.VVEB Ostseeschmuck Volkseigener Betrieb der DDR aus Ribnitz, der Bernstein und Silberschmuck vor allem für den Westexport herstellte. Aus Mangel an Ostsee-Bernstein wurde in den 70er Jahren über Zeitungsannoncen aufgerufen, Bernstein aus der Republik einzusenden. Überraschend viele Einsendungen hatten die Absenderadresse in Bitterfeld. So wurde der Tagebau Goitzsche zu einer der wichtigsten Bernsteinabbaustätten der DDR – und der meiste Bernsteinschmuck in der BRD kam nicht aus den Wogen des Meeres bei Hiddensee, sondern aus der schmutzigsten Stadt Europas. Heute wird immer noch Bernstein abgebaut – von einem Boot aus.WWerksorchester In den verwinkelten Kellern des Kulturpalastes fanden sich von der Feuchtigkeit stark in Mitleidenschaft gezogene Instrumente mit der Gravur der Kombinate. Vergessene Zeugen der großen Musiktradition, die 1990 scheinbar einfach liegengelassen worden waren. Vergessene Zeugen der großen Musiktradition am Kulturpalast mit einem Arbeiter-Sinfonieorchester.Für das Festival ist der New Yorker Komponist Ari Benjamin Meyers den ➝Neuen Bitterfelder Weg gegangen und hat den Lehrvorgang umgekehrt. Seit einem Jahr lehren Musikschüler:innen Erwachsene ohne musikalische Vorkenntnisse, auf den Instrumenten zu spielen. Die Idee des umgekehrten Lehrvorgangs ist mehr als invertierte Musikpädagogik. Vielmehr geht es um einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch und das Zusammenleben im Selbstbewusstsein einer gemeinsamen Geschichte. Meyers’ Neukomposition, die im Festival aufgeführt wird, basiert darauf, ein oft vernachlässigtes soziales Tool zu reaktivieren: das Aufeinanderhören.ZZirkel In Bitterfeld gab es eine rege Zirkelkultur, mit zeitweise mehr als 70 Zirkeln, wo Menschen unter professioneller Anleitung zeichneten, schrieben, sangen, tanzten und musizierten. Einige der Mal- und Theaterzirkel haben sich bis heute gehalten. Die heute in Düsseldorf, Kyiv und New York ausstellende Künstlerin Henrike Naumann hat beispielsweise Zeichnen gelernt – in einem der Zirkel ihres Großvaters, Karl Heinz Jacob, der fast 30 Jahre lang den Zeichenzirkel im VEB Steinkohlewerk Martin Hopp leitete. Beim Festival stellt sie keine ihrer Installationen aus, sondern leitet selbst einen Zeichenzirkel mit alten und jungen Menschen. Nur dass sie keine Arbeiter im Werk porträtieren, sondern das Interieur des Hotels Bitterfelder Hof. Was 90er-Interieur über den Osten erzählt? Geschichten von Ausverkauf, Sehnsucht, Gewalt, Treuhand, Abschieden und Neuanfängen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.