Da, wo das Buch lebt

Bibliothek Was man erlebt, was man sieht und vor allem wen man trifft, wenn man stundenlang hinter einer Informationstheke in einer großen Bibliothek sitzt

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In letzter Zeit verbringe ich viele Stunden in einer großen Bibliothek, denn ich werde dafür bezahlt, es ist gewissermaßen mein Job. Also sitze ich hinter einer der vielen Theken und tue so als gehöre ich dazu, um dann wenn jemand kommt und mich etwas fragt, zu erklären, dass ich nicht dazu gehöre. Aber das ist hier auch gar nicht entscheidend, sondern die schlichte Tatsache, dass ich regelmäßig sehr viel Zeit damit verbringe, hinter einer Theke Menschen in Bibliotheken zu beobachten. Und das ist etwas ganz anderes als in einem Straßencafé Passanten zu belauern. Zumindest möchte ich das behaupten. In keinem meiner bisherigen Jobs habe ich so viele komische Menschen getroffen wie ich es jetzt an einem Tag in der Bibliothek tue. Während bereits meine Kollegen, also die Menschen auf meiner Seite der Theke sehr besonders sind (und hier sei nur der Kollege erwähnt, der jeden seiner Sätze mit „ja“ beendet), ist die eigentliche Bühne doch jenseits meines Tisches.

Gestern kam dieser alte Herr, meiner Einschätzung nach emeritierter Professor, und setzte sich hin. Er hatte kein eindeutiges Thema für eine Unterhaltung, aber das schien niemanden zu stören. Man begrüßte ihn gleich mit Namen und er begann zu erzählen, dass er am Wochenende auf diese Tagung der Numismatiker fahren würde und dass das alles so kompliziert sei mit den Bussen am Wochenende, zumal wenn man wie er nicht in der Stadt lebe und seine Frau habe ja immer so viel Verständnis und das schon seit 56 Jahren. Er käme ja jeden Tag hier her, sonst würde ja nichts werden und außerdem sei das seiner Frau zu viel, wenn er den ganzen Tag zu Hause „rumlungere“.

Dass Bibliotheken also anscheinend Orte sind, die Menschen anziehen, die jemanden zum Reden brauchen, leuchtet mir irgendwie ein und auch die Tatsache, dass Zentrale Informationen nicht nur Auskunft über bibliotheksverwandte Themen geben, sondern eben auch zum Leben, Altern und Sterben oder zumindest der Angst davor. Es beruhigt mich in gewissem Maße, dass es solche Orte gibt.

Aber dann kam Luise. Und sie stellt sich auch noch als solche vor: „Hallo, ich bin Luise und ich frage mich wie das mit dem Buch geht.“ „ Was jetzt genau?“, will ich fragen und besinne mich in letzter Sekunde auf mein Nichtzuständigsein. Luise ist sehr groß und sie hat sehr langes, sehr fettiges Haar. Sie trägt einen bodenlangen Rock mit Strickpullover (es sind 32 Grad vor der Tür!) und ich würde alles darauf verwetten, dass sie in den 90igern als perfekter Fan der Kelly Family durchgegangen wäre. Jetzt ist ihr Anblick irgendwie traurig, aber sei es drum, dass wäre kein Grund für eine Vorverurteilung. Luise ist gekommen wie sie ist und sie hat ein Problem: das mit dem Buch. Was nochmal? Sie weiß es auch nicht so recht. Irgendwie würde man meinen, wenn es ein Problem gibt, das eine Bibliothekarin hinter einer Theke mit dem Namen „Zentrale Information“ klären könnte, so hätte es mit der Ausleihe zu tun, oder einer neueren Auflage in Fernleihe oder der Beschädigung des Exemplars oder irgendwas in der Art. Aber nein. Luise hat das Buch gelesen und jetzt hat sie Fragen. Es geht um Infrastrukturpolitik im Kanton Bern in den Jahren 1790-1850. Und in ihrem halbstündigen Vortrag zum Thema kristallisieren sich tatsächlich Ergebnisse intensiver Lektüre, aber warum (in Gottes Namen!) sie meint, dass man an einer „Zentralen Information“ ausgewiesene Experten zur genau diesem Thema versteckt, bleibt so offen wie ihr sehr langes, sehr fettiges Haar.

Es ist Mittagspause und der Mann, der jeden Satz mit „ja“ beantwortet zieht sich mit seiner Brotdose zurück und ich frage mich, ob er bei seiner Mutter wohnt und ob sie immer noch seine Brote schmiert. Ich sehe ein, dass diese Frage zu weit gehen würde und packe meine Sachen. Zumindest für heute.

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