Man schreibt für sich selbst

A–Z Hausautoren In der Zeitung ist nicht immer genug Platz für all die Gedanken der „Freitag“-Autoren. Deswegen schreiben sie darüber Bücher. Ein Überblick in unserem Lexikon der Woche
Wie illustriert man Krieg?, fragte sich einer der Autoren des "Freitag". Und stellte Kriegsärzte als Haie dar
Wie illustriert man Krieg?, fragte sich einer der Autoren des "Freitag". Und stellte Kriegsärzte als Haie dar

Illustration: Felix Gephart

A

Anderes Amerika „This land is your land, this land is my land / From California to the New York Island / From the Redwood Forest to the Gulf Stream waters / This land was made for you and me.“ Es sind die berühmtesten Zeilen des US-amerikanischen Singer-Songwriters Woody Guthrie. Zu seinem 100. Geburtstag im Juli 2012 hat Barbara Mürdter eine Biografie veröffentlicht, in der sie den einflussreichen Folkmusiker als widersprüchlichen und vielseitigen Geist würdigt. Guthrie zog durch das Land und schilderte in zahlreichen Songs die schwierigen Lebensumstände der „einfachen Menschen“, vor allem der „Hobos“, der Wanderarbeiter in der Zeit des „New Deal“.Mürdter beschreibt den Künstler als „Stimme des anderen Amerika“ und liefert gleichzeitig einen spannenden Einblick in die Sozial- und Migrationsgeschichte der USA. Behrang Samsami

Woody Guthrie Barbara Mürdter Neues Leben 2012, 240 S.

Autobiografie Ja, es gibt sie, die wohltuend undogmatische, weder ins Opportunistische noch ins Gegenteilige gewendete, so kritisch wie selbstkritisch gebliebene, an Realität geschulte und von Utopie beflügelte Linke. Sie hat einen Namen: Ekkehart Krippendorff. Ein deutscher Professor, der seinen Wurzeln nachspürt. Seine Lebensfäden weisen auf Vergangenes. Ihr eigentlicher Impetus ist das Entdecken verbliebener Möglichkeiten.

Nachdem Irr-Wege offengelegt worden sind, könne man nicht aufhören, Wege zu suchen. Zwischen Krieg, Theater, Universitäten, Nationalismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion hat er seine Fäden verwoben. Er vermag es, ehrlich zu sein, ohne sich selber zu beschädigen, vermag zu erklären, ohne sich zu rechtfertigen – und das als ein demokratischer Linker, ein von großem Theater Belehrter.Begeistert. Geerdet. In der akademischen Welt mehrfach abgewiesen, lehrte er engagiert 21 Jahre in Berlin. Skeptisch gegen verfasste Religion wird er pazifistisch angesichts der gnadenlosen Folgen der Gewalt. Überall scheint durch, welch ein Glück ihm seine Frau Eve wurde. Sich selbst und den Nachgeborenen die Zeit zu erklären – das ist ihm gelungen. Friedrich Schorlemmer

Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche Ekkehart Krippendorff Graswurzelrevolution 2012, 476 S.

B

Booklet Fernsehen kommt nicht mehr nur im Fernsehen. Erst recht gute Qualitätsserien wie The Wire, die romanhaft in Episoden und über Staffeln von den Abhängigkeiten der Polizeiarbeit in Baltimore erzählen, schaut man, wenn nicht im Internet, auf DVD. Was in den DVD-Boxen fehlt (im Internet auch), liefert nun eine Reihe im Diaphanes-Verlag nach, deren Name Programm ist: booklet. Herausgegeben wird sie von Simon Rothöhler; schmale Bände für den Entzug nach dem Gucken. Die ersten drei sind gerade erschienen – Daniel Eschkötter über The Wire, Diedrich Diederichsen über The Sopranos und Rothöhler selbst über die fiktiven Innenansichten aus dem Weißen Haus: The West Wing (s. der Freitag vom 3. Mai). Anfang September folgen Dominik Graf über Homicide, Dietmar Dath über Lost und Bert Rebhandl über Seinfeld. To be continued. Matthias Dell

Reihe booklet Diaphanes 2012

E

Essen Früher hat es vielleicht gereicht, Mao zu lesen, um China zu verstehen. Das ist lange vorbei. Wer das Reich das Mitte kennenlernen will, muss sich an den Tisch setzen. Denn was die Kulturrevolution noch am wenigsten beschadet überstanden hat, das sind die Gerichte der chinesischen Küche samt ihrer Rezepturen, Legenden und Rituale. Und wenn der Europäer beim Essen noch oft an die Bitte um das „täglich Brot“ denken mag, haben die Menschen in China eher was anderes im Kopf: „Ich esse, also bin ich.“ Das ist der uralte Individualismus östlicher Prägung.

Also hat Marcus Hernig sich im kulinarischen Raum südlich der großen Mauer umgetan – ein Universum. Er ist ein großer Chinaversteher, dieser Mann, denn den Mao, den hat er sicher auch gelesen. Jörn Kabisch

Eine Himmelsreise: China in sechs Gängen Marcus Hernig Die Andere Bibliothek 2012, 400 S.

F

Fantastisch Der Großschauspieler Johannes Weltmüller soll in Hamburg keinen geringeren als Godot spielen. Regie führt Henrike Zöllner, die zuvor in Wien den Hamlet von Hunden spielen ließ. Den Leipziger Augustusplatz bedeckt eine Skulptur aus Nationen-Kacheln, die keiner geschaffen haben will. Der Dresdner Kurator Bernd Sandmann bekommt Hausverbot auf Lebzeiten in allen italienischen Galerien, weil er den Raub der „Rosenmadonna“ von Parmagiano aufdeckt. Gefunden wurden all diese Kultur-Reportagen beim Journalisten Frank Fischer, den der Autor erfunden hat. Alles Fiktion, und doch scharf an der Realität vorbei – man denke an die Hunde-Führungen auf der diesjährigen Kasseler Documenta. Christine Käppeler

Weltmüller Frank Fischer SuKuLTuR 2012, 124 S.

G

Garten Zwei Gedanken zum Schreiben von Gartenbüchern. Erster Gedanke: Niemand braucht noch mehr von ihnen. Es gibt so viele. Von so vielen Leuten. Aber es gibt eben kein Buch über meinen Garten. Und ich möchte gerne ein Buch über meinen Garten haben. Der zweite Gedanke ist also: Man schreibt nicht für die anderen, sondern für sich selbst. Wenn die das dann auch lesen wollen – um so besser. Allerdings bleibt das nicht folgenlos. Die Leute denken dann nämlich, man wisse Bescheid. Es gibt so ein Denken: Wer ein Buch veröffentlicht, muss Ahnung haben. Und weil ich ein Gartenbuch geschrieben habe, glauben die Leute, ich verstünde etwas von Gärten. „Verzeihung. Ich verstehe nur etwas von meinem Garten. Wenn Ihnen das hilft, gerne. Wenn nicht, Ihr Problem.“ Jakob Augstein

Tage des Gärtners Jakob Augstein Carl Hanser 2012, 272 S.

K

Kriegsbilder Ich durfteJohnny got his gun von Dalton Trumbo illustrieren, ein kontroverser Stoff. Der Soldat Johnny überlebt nur als Torso, verliert Sprach-, Seh- und Hörfähigkeit. Sein Bewusstsein über den Wahnsinn Krieg ist jedoch erwacht. Die Ärzte „retten“ sein Leben durch Amputationen und unterbinden später seinen Wunsch nach Kommunikation via Morsezeichen mit Beruhigungsmitteln. Ich habe sie als gierig kreisende Haie mit Stethoskopen dargestellt (siehe Illustration). Felix Gephart

Und Johnny zog in den Krieg Dalton Trumbo Onkel und Onkel 2012, 232 S.

L

Leben Während andere ihre Alltagsbeobachtungen sofort twittern, hat Tobias Premper nur sein Notizbuch dabei. Es ist etwas kleiner als eine Postkarte, mit grünem Leineneinband, rotem Papierschnitt und der roten Silhouette des Schriftstellers Fernando Pessoa auf dem Deckel. Durch das Schreiben mit der Hand, sagt Premper, komme er dichter dran an die Dinge, die Menschen, das Leben. Seit acht Jahren archiviert Premper die kleinen Momente des Alltags, er schreibt mit, was er sieht, hört, denkt. Mit Das ist eigentlich alles ist nun sein erstes Buch erschienen – eine Sammlung von Miniaturen, einige Texte sind kürzer als eine SMS. Premper hält Begegnungen fest, in denen sich Menschen und deren Gefühle offenbaren: „3 Schlüssel für die neue Wohnung bekommen und kein Mädchen, dem ich einen davon geben könnte“, ist so ein Text. Premper beschreibt flüchtige Momente, in denen der Mensch liebt, träumt oder verwundbar ist – und das ist eigentlich schon recht viel. Kathrin Klette

Das ist eigentlich alles Tobias Premper Steidl 2012, 288 S.

Liebe Während alle Welt noch über die Erotik-Schmonzette Shades of Grey. Geheimes Verlangen diskutiert, haben Gina Bucher und Beat Matzenauer einen wesentlich intelligenteren Verführer ausgemacht: Das Buch an sich. Wie es den arglosen Leser fesselt, dem sind sie anhand von historischen Anekdoten, Essays und Zitaten nachgegangen. Und stetig lockt die Sonderedition. CKÄ

Lieber barfuß als ohne Buch: Almanach der Bibliomanie Hrsg. von Gina Bucher und Beat Matzenauer Salis 2012, 190 S.

R

Redbullisierung Kapitalismuskritik ist derzeit überall. Zu Recht. Die Bankenkrise hat vielen das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit von Marktwirtschaft und Politik genommen. Für Markus Metz und Georg Seeßlen hat diese Entwicklung System. In ihrem Essay analysieren sie die Vermischung von Unterhaltung und Ökonomie zum „Econotainment“. Diese Entwicklung stehe ihrerseits für einen größeren Diskurswechsel: die Transformation des Finanzkapitalismus und der Demokratie. Die Autoren veranschaulichen, wie mithilfe medialer, sozialer und technologischer Apparate – „Blödmaschinen“– Marken wie Red Bull zu Events und Unternehmer wie Steve Jobs zu Heiligen hochstilisiert werden. Die Politik ginge nicht dagegen vor, sondern unterstütze im Gegenteil den Prozess, der mit dazu beiträgt, Reichtum und Macht von unten nach oben zu verteilen. Behrang Samsami

Kapitalismus als Spektakel Markus Metz & Georg Seeßlen edition suhrkamp digital 2012, 88 S.

V

Vernunft Wir vernetzen uns. Nicht nur im Internet bilden wir Netzwerke oder Seilschaften. Wissen wird aus Netzen gezogen, Wissen ist ein Netz von Begriffen und Behauptungen. Handeln heißt dann, an Fäden zu ziehen, neue Knoten zu knüpfen. Aber die Wirklichkeit ist kein Netz, sie ist eher ein Dickicht, ein Vlies. Sie gleicht nicht strukturierten Netzen der Theorien, sondern den Spinnweben, die man hinter Schränken findet. Ist es vernünftig, diese Realität mit den Netzen unseres Weltbildes einzufangen? Die Kritik der vernetzen Vernunft versucht, in verständlicher Sprache eine Philosophie der vernetzen Welt zu formulieren. Es geht um Schneeflocken, Smartphones, Blogs und politisches Handeln. Was heißt da Wissen? Was ist zu tun? Und gibt es noch Hoffnung? Jörg Friedrich

Kritik der vernetzten Vernunft Jörg Friedrich Heise 2012, 180 S.

Z

Zeitschrift Will’s mal so sagen: Wirklich unabhängige, undogmatische und doch haltungsstarke Köpfe kann man in der linken Publizistik an einer Hand abzählen. Zuerst fällt mir Franz Walter ein. Man denke an seine Artikel zum Populismus oder zu den 68ern, die im Freitag zu lesen waren.

Der Göttinger Politologe würde gerne noch mehr für uns schreiben (sagt er), ist aber viel beschäftigt, unter anderem als Herausgeber der Zeitschrift Indes, deren zweite Nummer nun vorliegt. Von Walter selbst findet sich darin ein Essay zur meritokratischen Utopie (meint: „nur die Leistung soll zählen“). Empfohlen sei er a) allen Bildungsfetischisten und b) allen, die unsere Sommerserie über sozialen Aufstieg verfolgen. Michael Angele

Indes Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht 2012, H. 2, 144 S.

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