Der Sturschädel

Viktor Orbán will Ungarn als wiedergewählter Regierungschef in eine „großartige Epoche“ führen. Dabei ist die Leistung der Wirtschaft in den letzten vier Jahren nicht besser geworden
Ausgabe 15/2014

Es ist nur ein kleiner Schlag ins Kontor, aber immerhin. Die Nationalkonservativen der Fidesz haben die Wahlen mit 46 Prozent der Stimmen gewonnen, aber ein Minus von sieben Prozent gegenüber dem Erdrutschsieg von 2010 zu verkraften. Das ist ein Verlust von gut 800.000 Stimmen, den sich der alte und neue Premier Viktor Orbán ankreiden lassen muss. Allzu sehr war die Wahlkampagne auf ihn zugeschnitten. Worüber in Budapest nicht gern geredet wird: die Wähler sind nicht zu den Linken oder Liberalen abgewandert, sondern sie haben die ultrarechten Prätorianer der Jobbik-Partei gestärkt. Die haben immerhin eine Million Wählern in ihren Bann gezogen und kommen auf bisher nie erreichte 21 Prozent.

Erlaubt das einen Vorgeschmack auf das Wahlergebnis in etlichen EU-Staaten nach der Europawahl Ende Mai, wenn Parteien ähnlichen Kalibers bilanzieren wollen: EU-Skepsis oder gar -Feindschaft zahlt sich aus? In Ungarn hat die Fidesz mit ihrer restaurativen Magyaren-Rhetorik den Geist aus der Flasche gelassen. Davon hat Jobbik profitiert, während die linke Allianz Kormanyvaltas (Regierungswechsel) mit ihrer Anti-Fidesz-Kampagne ohne die erhoffte Resonanz blieb – 24 Prozent sind respektabel, aber kein Veto gegen noch einmal vier Jahre mit Orbán. Die Meinungs- und Pressefreiheit genießen für die Provinz nun einmal keine solche Priorität, wie sich das urbane Trendsetter vielleicht ausmalen. Für die Landbevölkerung zählen stabile Renten wie ebensolche Gas- und Strompreise. Dazu konnte ihnen die bisherige Regierung beruhigende Auskünfte geben. Sie wurden in dem Bewusstsein vernommen, belastbar zu sein.

Am Wahlsonntag hat Viktor Orbán seinen Sieg als Zeichen für „eine großartige Epoche“ gedeutet, in der man Ungarn „gemeinsam wieder groß machen könne“. Zweifel sind angebracht, nicht nur weil er mit seiner nationalkonservativen Politik und der Gleichschaltung von Kultur, Medien und Justiz sein Land in der EU isoliert hat. Auch die Leistungskraft der Wirtschaft ist nach vier Jahren Regierungszeit nach wie vor bescheiden.

Ein Bewusstsein ohne Demut

Orbán hat seine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen im Dorf Alcsútdoboz etwa 40 Kilometer von Budapest entfernt verbracht. Das Vorbild, so erzählt er häufig, sei der Großvater gewesen, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat am Don gekämpft habe. Das Ungarn des Admirals Miklós Horthy war ein Vasallenstaat Hitlers und stellte Soldaten für den Krieg gegen die Sowjetunion. Als Persönlichkeit habe er den Großvater geschätzt, der sei stur gewesen und habe nie nachgegeben, wenn es darauf ankam, meint der Enkel heute. So habe er gelernt, sich in eine Welt hineinzufinden, in der man nie scheitern oder feige sein dürfe.

Als Viktor Orbán in den frühen siebziger Jahren heranwächst, arbeitet der Vater für eine Agrargenossenschaft und leitet dort die Schlosserei. Die Mutter unterrichtet in der Dorfschule. Harte Arbeit, Pflichtbewusstsein und ständiges Lernen bestimmen den Alltag. Der Vater erwirbt mit 30 sein Handwerkerdiplom, die Mutter wird Logopädin. Die Herkunft wird zum Antrieb und verschafft Viktor Orbán einen Vorteil, wie ihn die Mitschüler oder Kommilitonen später nicht kennen – ein Bewusstsein ohne Demut. Ab 1977 geht er aufs Gymnasium in Székesfehérvár, seine Freunde werden Tamas Varga, der sich später den Fidesz-Finanzen widmet und 2005 von Interpol wegen Betrugs verhaftet wird, und Lajos Simicska, der heute die Parteikasse verantwortet. Und noch etwas ändert sich durch die Gymnasialjahre in Orbáns Leben: Als Mitglied des Jugendverbandes KISZ lernt er die Politik kennen. 1982 beginnt er ein Jurastudium, obwohl er sich nicht sonderlich für das Fach interessiert. An der Fakultät in Budapest lernt er spätere Parteigenossen wie József Szájer (derzeit im EU-Parlament) oder János Áder, den heutigen Präsidenten, kennen. Die Universität eignet sich gut, zu lernen wie man eine selbstständige politische Zelle im sozialistischen Ungarn gründet. Am 30. März gründet Orbán den Bund Junger Demokraten (kurz Fidesz). Bis zu den ersten freien Wahlen 1990 widmet sich die Gruppe Umweltfragen, gibt sich liberal und radikal.

1990 zieht Fidesz mit 22 Abgeordneten ins Parlament ein, wird leicht übermütig und gefällt sich als nationalistischer Provokateur. Orbán ist nicht nur mittendrin – ihn beseelt der Wille zur Macht, die ohne Plazet der Wähler eine Schimäre bleibt. Viele Gründungsmitglieder verlassen die Partei. Der Aderlass führt zum Rechtsruck und hat Folgen. Bei der Parlamentswahl 1994 erhält Fidesz nur sieben Prozent. Und wenn Viktor Orbán eines nicht ertragen kann – dann Misserfolge. In der Opposition tut er alles, um nicht noch einmal so hoch zu verlieren. Sein Outfit wird bürgerlicher, statt Jeans und karierten Hemden trägt er stets Anzüge, die Haare werden kürzer und gepflegter, der Bart ist weg. Der Durchbruch rückt näher. Bei einer Rede zum Gedenken an Imre Nagy, den Ministerpräsidenten des Ungarn-Aufstandes von 1956, macht der Politiker mit Prinzipen von sich reden, die so unverrückbar sein sollen wie die zehn Gebote. Orbán beschwört die Unvereinbarkeit vom Kommunismus und Demokratie und den Weg in Richtung Westen, wo die gebratenen Tauben warten, dazu Gegenwart und Zukunft.

2010 erstmals an die Regierungsspitze gewählt, lässt Orbán auf Staatskosten ein Stadion mit 5.000 Sitzplätzen für eine 1.800-Einwohner-Gemeinde in unmittelbarer Nachbarschaft seines Wochenendhauses bauen, um aller Welt zu zeigen, wie weit es der einst arme, verachtete und schwer zugängliche Bauernbursche gebracht hat.

Agnes Szabó, geboren in Ungarn, hat ihr Land verlassen und lebt als Journalistin in Berlin.

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