„Ein Dilemma“

Interview Kann ein Thema für einen Künstler von zu großer politischer Aktualität sein? Der ungarische Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó findet: Ja
Ausgabe 43/2016

Kornél Mundruczó ist in Budapest im Filmstudio mit dem Schnitt seines neuesten Films beschäftigt, als unsere Autorin ihn erreicht. Die Zeit drängt, der Film soll im Frühjahr in Cannes gezeigt werden. Nebenbei leitet Mundruczó noch das Proton Theatre, dessen aktuelle Inszenierung ab Freitag in Berlin zu sehen ist.

der Freitag: Herr Mundruczó, Ihr Film trägt den Titel „Superfluous Man“. Worum geht es?

Kornél Mundruczó: Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Freundschaft zwischen einem jungen Flüchtling aus Syrien und einem ungarischen Arzt. Wir wollten einen zeitgenössischen Film machen, der über das Kino hinaus aufrütteln wird.

Etwa vor einem Jahr saßen Tausende Flüchtlinge am Ostbahnhof in Budapest fest, Deutschland hat daraufhin die Grenzen geöffnet. Ist Ihr Film eine Reaktion darauf?

Das Drehbuch ist seit zwei Jahren fertig. Ich habe mich mit dem Thema Flüchtlinge und Migration in den letzten fünf Jahren intensiv beschäftigt. Vor zwei Jahren habe ich Franz Schuberts Winterreise in Antwerpen inszeniert, dafür drehten wir Filmmaterial in Flüchtlingscamps in Ungarn, in Bicske und Debrecen. Schon damals nahm mich die Problematik in Beschlag und ich schrieb das Filmskript. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Produzenten, meine Ko-Autorin und mich brachte das in ein Dilemma.

Zur Person

Kornél Mundruczó, 41, zeigte bereits fünf seiner Filme in Cannes. Sein Stück Imitation of Life handelt vom Fall eines Roms, der sich Rechtsradikalen anschließt und übergriffig gegen Roma wird

Weshalb?

Ich habe immer Bedenken, zu akuten Themen zu greifen. Wir entschieden uns dann dennoch für den Dreh, weil es im Film im Endeffekt um eine allgemeingültige menschliche Geschichte geht. Es wäre Selbstbetrug gewesen, ihn nicht zu machen.

Muss man sich als Künstler in so einer Situation nicht gerade politisch einmischen?

Ich halte das für eine falsche Denkweise. Ich glaube, dass man damit das System sogar zementiert. Propagandistische Äußerungen von Künstlern schütten nur Wasser auf den Beton, auf das Fundament der Statue, gegen die wir kämpfen. Mich interessiert eher, wo wir die haarfeinen, kaum sichtbaren Risse im Beton finden, um dieses Fundament zu zersetzen. Solange man auf der Seite der Kunst steht, sollte man diese dünnen Risse suchen.

Ihr Ensemble Proton Theatre besteht seit 2009, wie vielen freien Gruppen wurde Ihnen die Förderung entzogen. Wie halten Sie sich über Wasser?

Wir sind wie eine Operettentruppe. Ich kann kein stabiles Ensemble finanzieren, ich arbeite mit meinen Schauspielern projektbasiert. Wir finden Freunde und Institutionen im Ausland, die uns fördern, etwa das HAU in Berlin. Sie geben uns Geld, damit wir ein ungarisches Stück produzieren. Das ist schön, so können wir eine kritische Plattform bieten, was die Stadttheater nicht tun können. Andererseits sind alle meine Mitarbeiter um die 40. Wir haben das Gefühl, unsere Jugend verschwendet zu haben, weil man unter diesen Umständen nichts aufbauen kann, worauf man später zurückgreifen könnte. Man kann in Ungarn heutzutage nur im institutionellen Rahmen vorankommen. Die staatliche Theater aber sind durchpolitisiert, das ist eigentlich schon so seit der Wende, aber in den letzten sechs Jahren wurde es noch extremer.

Sie sagen immer wieder, dass der Film das größere Genre sei. Heißt das, Sie halten das Theater nicht für gleichrangig?

Ich meinte das im Hinblick auf die Zeit. Der Film ist eine Konserve, er bleibt nachhaltig in derselben Form erhalten, während das Theater nur im Augenblick existiert. Welches die edlere Kunst ist? Es gibt keine Rangordnung, es gibt sieben Künste, eine davon ist der Film. Wenn es darum geht, womit ich mich identifiziere, so sehe ich mich als Filmregisseur, der manchmal in der Theaterwelt plündert.

Viele junge Filmemacher wie Szabolcs Hajdu oder Béla Tarr wollen mit dem System nichts zu tun haben. Sie nehmen keine Unterstützung vom Ungarischen Filmförderungsfonds an. Sie hingegen nutzen dieses Geld für Ihre Filme.

Die Frage ist für mich, auf welche Kompromisse ich eingehe und in welchem Maße. Meine Filme sind nicht einmal zu 50 Prozent vom Ungarischen Filmförderungsfonds unterstützt. Das meiste Geld bekomme ich aus Deutschland. Was die ungarische Förderung betrifft, ist mein Gewissen rein, ich bekomme Steuergelder, das ist Geld, das ich, meine Freunde und meine Eltern dem Staat bezahlen. Ich gebe also ihr Geld aus und bin keiner Kulturpropaganda verpflichtet.

Warum bleiben Sie in Budapest? Sie hätten die Möglichkeit, überall in Europa zu leben.

Weil das Leben hier verdammt hart ist. Budapest ist eine Stadt mit vielen Widersprüchen, sie ist zwar melancholisch, aber rebellisch, und sie liefert viele gute Stoffe für Theater und Film. Solange ich nicht mit Gewalt zum Schweigen gebracht werde und meine Perspektive immer wieder im Ausland erweitern kann, glaube ich nicht, dass ich woanders glücklicher sein könnte. Und ich bin im Grunde ein Mensch auf der Suche nach Glück.

Info

Imitation of Life von Kornél Mundruczó/Proton Theatre ist ab 28. Oktober im Berliner HAU zu sehen

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Geschrieben von

Agnes Szabó | Agnes Szabo

Hospitantin, Medienmittlerin

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