Ich war eine Situation

Tagebuch Tino Sehgal bei den Berliner Festspielen 2015

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Auf zu Tino, huiuiui, Tram hä, laufen wir zur S-Bahn, och nö, doch, und da dann Schienenersatzverkehr, das schaff ich nicht, sag ich, das kann ich nicht, innen Bus mit -zig Leuten und SO WARM, klatschnass war alles auf mir, und wieder zurück zur Bahn und dann Oberklatsch und nee, ich kann nicht, bis Charlottenburch, nee, dann geh ich allein und du fährst heim, sagt sie und ja, is sauer, aber ich bin auch noch nicht ganz abgesprungen, und als mir dann einfällt, dass U-Bahn vielleicht ab Pankow und ich ne Strecke raussuche, die zweimal U und einmal S, kann ich mich wieder damit anfreunden und WILLS ja auch sehen!

Also gut hin, gutgelaunt auch (wieder), und in der Schlange, das dauert, wird von einem Mann angekündigt, der wie alle Dazugehörenden ein T-Shirt trägt, auf dem "SCHEIZE LIEBE SEHNSUCHT / Meine Lieblings Deutsche Wörter" steht, dass mit dem Kartenkauf bereits die Performance begönne. Kinder hüpfeln barfuß rum, nehmen die Besucher in Empfang, und dann sind WIR dran und ein Junge stellt sich vor und fragt, ob wir ihm folgen. Wir sagen: "Klar!"

Er fragte uns nach Fortschritt, meldete unsere Antwort an eine junge Frau, die uns darauf aufbauend nach dies und jenem fragte, die von einem Mann abgelöst wurde, der themenaffin dies und jenes erzählte, der uns an eine ältere Dame übergab, die uns themenferner viel von sich erzählte. Unser Thema war: Dass wir Schwestern sind. Die ältere Dame hielt uns für Künstlerinnen.

SITUATIONEN. Kunst, aber sie durften / sollten nicht über Kunst reden.

Wir haben über Schwestern und Biochemie und menschliche Beziehungen geredet. Das Kind fragte und fragte, der Teenager redete über sich und fragte, der Erwachsene übernahm Verantwortung und fragte nichts, die Ältere erinnerte sich und fragte, überging aber die meisten Antworten sehr charmant.

Ich fand total schlimm, dass die dann immer gingen, wenn der nächste dran war, Generationendings, ja, und sich gar nicht verabschiedeten, so. Das war wie im Internet, KLICK und weg.

Und ich fänd am spannendsten, wenn man DIE befragte, waren immer 9 in jeder Generation (bei den Kids vielleicht mehr), und sie sollten pro Tag nicht mehr als fünfmal „laufen“, haben das aber überschritten, weil soviel Andrang war. Und also wie DIE das wahrnahmen, wie einen JOB (wurden sie bezahlt?), uns wie ARBEIT? Wenn ich das Verlassenwerden schon empfand, denen oft was („DANKE! TSCHÜSS!“) hinterher rief, wie empfanden SIE denn dann das VERLASSEN, das STEHENLASSEN, ohne Abschied, ohne Blick? War das schwer? Bleiben MIR die vier Menschen, die uns begleiteten und, mal mehr mal weniger, von sich erzählten, mehr im Gedächtnis als ich den vier Menschen, die -zig Leute wie mich trafen in den letzten Tagen, und sich deren Antworten und Fragen gefallen ließen?

Schön zu beobachten waren die Generationen-Häufchen, die sich bildeten, wenn Leerlauf war, sichtlich vertraut waren sie nach den vielen Runden mit Fremden, jeder hatte seine Geschichte, sie konnten über die Erfahrungen mit dem Besuchern reden, aber auch über sich, wie eh – verrückt.

Wenn ich gewollt hätte, hätt ich eine(n) mir raussuchen können, hernach, im Garten, aber sie waren vielleicht gleich wieder dran und ich wollte nicht stören. Und hatte Angst vor Ablehnung, „Das dürfen wir nicht!“

Bereicherung 1: für uns die Erfahrung, uns innert Sekunden zu öffnen (na ja, mit Handbremse), und vor allem, dass sich UNS wer öffnet unvermittelt, von sich erzählt, durchaus Nähkästchen, durchaus Eingemachtes. Privata. Sowie die Gedanken, die Gespräche, die wir hernach hatten miteinander, siehe dies hier.

Bereicherung 2: für die Begleiter, Leiter, Führerinnen das Miteinander, das Verschworene der Gruppe mit ähnlichen Erfahrungen, das Teilen eines Abenteuers. Sich zeigen, öffnen, und da stehen / gehen und sagen: „So bin ich!“ Reaktionen bekommen und aushalten und auffangen, die nicht vorhersehbar sind.

Oder doch?

Als ich Kinder Erwachsene auf die Seite führen und diese ansprechen sah, hatte das AUCH den Hauch von etwas – anderem. Wer wirft den ersten Stein. Und wie ist das, wenn du alleine da bist, und also eine echte 2er-Situation entsteht. NOCH intimer?

Der Garten gab feins Essen und Gutgetränke, und als die Schwalben tiefer kamen, gingen wir durch eine kühler werdende Nacht, konnten uns partout nicht an die erste Frage von dem Kind erinnern und waren – Situation.

http://blog.berlinerfestspiele.de/tino-sehgal/

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Geschrieben von

Amanda

Wieder hier, wieder da, wieder dort.

Amanda

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