Solidarität versus Solidarität?

Black lives matter! Demonstrieren in der Pandemie. Ein Kommentar zum Dilemma.

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Das Problem Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze ist von immenser Aktualität, in den USA und auch in Deutschland. Nach der Ermordung von George Floyd hat das Entsetzen und die Wut weltweit eine Kraft angenommen und eine Solidarität hervorgerufen, die die Chance birgt, den von vielen Organisationen und Einzelpersonen jahrzehntelang geführten Kampf gegen unser eigenes rassistisches Verhalten und Dulden, und gegen den strukturellen Rassismus in unseren Gesellschaften, einen großen Schritt voran zu bringen.

15.000 Protestierende auf dem Alexanderplatz in Berlin, 25.000 auf dem Königsplatz in München und 14.000 in Hamburg, in hunderten von Metropolen und Städten auf der ganzen Welt versammelten sich am Samstag die Menschen um gegen Rassismus zusammenzustehen, manchmal mit Corona-Sicherheitsabstand, oft im Schulterschluss oder Arm in Arm. Das massenhafte, gemeinsame, öffentliche und unübersehbare antirassistische Bekenntnis hat große Kraft entfaltet und war wichtig.

Doch wenn ich mir die Bilder und Nachrichten von den Demonstrationen am Samstag ansehe, bin ich begeistert und beunruhigt zugleich. Die Menschen waren sich, denke ich, viel zu lange viel zu nahe, um die massenhafte Verbreitung des Coronavirus zu verhindern. Was wird in zwei Wochen sein?

Bei Facebook und Twitter herrscht zu diesem Thema schnell der übliche raue Ton. Die einen argumentieren das Virus existiere eh nicht (mehr) oder wäre hinsichtlich der viel tödlicheren Seuche Rassismus vernachlässigbar, die anderen fragen wütend, ob gegen das Jahrhunderte alte Übel Rassismus gerade jetzt massenhaft demonstriert werden müsse, ob die angemahnte Solidarität mit alten Menschen und möglichen Risikopatienten plötzlich nichts mehr gelte und alle Bemühungen der letzten Monate so fahrlässig gefährdet werden dürften. Die Fronten scheinen schnell verfestigt. Das wundert nicht, denn natürlich verteidigt man als Anti-Rassist auch sein eigenes Handeln, ob man zur Demo gegangen ist oder nicht. Man hat Informationen gesammelt, Prioritäten gesetzt, die eine gegen die andere Solidarität abgewogen und sich so versucht aus dem Dilemma zu befreien.

Ist das das „new normal“ des Demonstrierens in Zeiten der Pandemie? Alle verteidigen ihre guten Absichten und dann starrt man 14 Tage auf die Infektionszahlen wie das Kaninchen auf die Schlange? Die Reaktionen von Politik und Wissenschaft zu den Demonstrationen am Samstag legen genau das nahe: Jens Spahn und Karl Lauterbach und die meisten Virologen äußern sich vorsichtig besorgt wegen der fehlenden Sicherheitsabstände auf den Demonstrationen, betonen aber ihre Unterstützung des Anliegens. Ende der Krisenkommunikation.

Neben dem Thema Abstandhalten scheint kein Politiker allgemeine Lösungen oder Kompromisse für das Dilemma des Demonstrierens in der Zeit der Pandemie zu suchen. Das ist fahrlässig. Schon scheint Infektionsschutz wieder eine Glaubens- und Einstellungssache zu werden, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse treten erneut zurück: Die Befürworter der sogenannten Hygienedemos und die Impfgegner fühlen sich zum Beispiel verständlicherweise von der Polizei benachteiligt, da diese bei den „black lives matter“ - Demonstrationen nicht eingriff, obwohl teilweise hundertfach so viele Menschen demonstrierten als angemeldet waren. Gleichzeitig fühlen sie sich in ihrer Grundannahme bestätigt, ist für sie doch die plötzliche Nachlässigkeit beim Infektionsschutz ein Zeichen, dass es bei den Corona-Maßnahmen eh nur um willkürliche staatliche Drangsalierung der Bürger geht. Rassisten wiederum nutzen die Gelegenheit Demonstrationsteilnehmer (zum Beispiel auch Prominente wie Boris Becker) unter dem Vorwand des Infektionsschutzes zu beschimpfen.

Doch ist es mit der Teilnahme an einer Demonstration und der Wahrnehmung des Versammlungsrechtes nicht wie mit einem dringend notwendigen Flug und dem Aufenthalt in einem Risikogebiet? Das eine sind die Infektionsschutzmaßnahmen während des Fluges und des Aufenthalts, das andere ist der verantwortungsvolle Umgang mit dem Ansteckungsrisiko nach der Rückkehr. Übertragen auf das Versammlungs- und Demonstrationsrecht könnte eine geglückte Krisenkommunikation durch die Politik und die Gesundheitsbehörden Empfehlungen für nach der Demonstrationsteilnahme aussprechen.

Ein Versuch: Jedem, der am Samstag an einer der großen Demonstrationen teilgenommen hat, oder der in Zukunft an einer Demonstration teilnimmt, wird für die darauf folgenden 14 Tage empfohlen: 1. Die unbedingte Vermeidung aller Massenveranstaltungen (Gottesdienste, Clubbesuche, Partys, weitere Demonstrationen). 2. Die besonders gewissenhafte Beschränkung der eigenen Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts auf das notwendige Minimum (z.B. Arbeit). 3. Keine Restaurantbesuche und kein Indoor-Sport. 4. Vermeidung öffentlicher Verkehrsmittel. 5. Das Tragen einer Nasen-Mund-Bedeckung in der Öffentlichkeit drinnen und draußen, und bei jedem Kontakt außerhalb des eigenen Haushalts, auch bei der Arbeit.

Demonstrieren in Zeiten der Pandemie ist ein Lernprozess: Das großartige Gefühl gemeinsam das Richtige zu tun, macht nicht automatisch immun. Aber Solidarität kann verdoppelt werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Antonie Maybaum

Asienwissenschaftlerin, Schwerpunkt Pol. /Gesellschaft China, Korea, Philippinen, wo sie die letzten 20 Monate arbeitete.

Antonie Maybaum

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