Es wäre ein leichtes, der Türkei aus der Nicht-Aufführung von Egoyans Ararat einen EU-Galgenstrick zu drehen. Nationalistische Kreise verstanden den Film als Provokation: vom europäischen Ausland bewusst lanciert, um die moderne und laizistische Türkei in den Augen der Weltöffentlichkeit als barbarisch und unzivilisiert darzustellen.
Einige Feuilletonisten stützten sich auf die allerliebste Aussage, Kino hätte schließlich zu unterhalten, und bevor man den Film unter Polizeibewachung vorführen müsse, sei es doch besser, ihn gar nicht aufzuführen. Der Kultusminister Erkan Mumcu bezeichnete den "Propagandafilm" als "ästhetisch ekelerregend." Dass einige diesen Film mit geschlossenen Augen gesehen haben, liegt an dem zugrunde liegenden historischen Tabu: 1915/16 kam es in der Ost-Türkei, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, zu einem organisierten Völkermord an armenischen Bevölkerung. Zwischen 600.000 und 1,5 Millionen Opfer wurden deportiert, ausgehungert, vergewaltigt, verstümmelt, verbrannt. Diese Massaker waren nicht die ersten und die letzten.
Atom Egoyans Ararat nähert sich seinem heiklen Gegenstand aus verschiedenen Richtungen - und erzählt statt einer gültigen Version von Historie viele Geschichten: Edward Saroyan, kanadischer Regisseur armenischer Abstammung will ein Kapitel der Tragödie, die Schlacht um die Stadt Van, inszenieren. Ani, eine Kunsthistorikerin, liefert dem Drehbuchautoren Ruben Fakten über eine Nebenfigur, den Maler Arshile Gorkij, der die Massaker als kleiner Junge überlebte und sich Jahre später das Leben nahm. Ali, ein türkischstämmiger Schauspieler freut sich über ein Engagement, und findet sich in der Rolle eines blutrünstigen türkischen Offiziers wieder.
Mit einem virtuos verschlungenen, filigranen Geflecht von Charakteren, Beziehungen und Zeitebenen greift Ararat dabei noch einmal all jene Themenkomplexe auf, die sich seit Jahren durch den filmischen Kosmos des Avantgardefilmers Egoyan ziehen. Wo dieser Film steht, erschließt sich erst so recht nach einer kurzen Rückschau auf Egoyans faszinierende Erzähltechnik, in der sich stets Episoden und Handlungs-Fragmente auf den ersten Blick zu keinem einheitlichen Bild fügen wollen: Figuren befinden sich im Leerlauf, üben scheinbar sinnentleerte Rituale aus. Ein einsamer Mann betrachtet nächtelang immer dieselbe Stripperin in derselben Erotikbar (Exotica). Ein zweiter Mann kommt in ein verschneites Provinznest, wo niemand mit niemandem redet, weil alle ihre Kinder bei einem Busunglück verloren haben (The Sweet Hereafter). Wieder ein anderer Mann bezahlt Frauen, vorzugsweise ausländischer Herkunft, dafür, dass sie sich am Telefon von ihm trennen (Calendar). Hinter diesen Zwangshandlungen scheint immer ein Trauma zu stehen, ein tiefgreifender Verlust, der es den Protagonisten unmöglich macht, miteinander zu kommunizieren. Stattdessen greifen sie auf starre Rituale zurück, auf Zeremonien, Fetische, oder auf Dritte: Menschen oder Medien. Häufig wird das Filmen-im-Film als Stilmittel eingesetzt; das Medium steht für Erinnerungen von fragwürdigem - relativem - Wahrheitsgehalt.
Der Moment, in dem der Zuschauer den Figuren begegnet, ist oft einer nach dem Schock: Die Geliebte ist schon fort, die Kinder sind verunglückt. Das Trauma, die Wunde schmerzt nicht mehr, ist in die Vergangenheit abgedrängt.
Vielleicht lässt sich eine therapeutische Entwicklungslinie in Egoyans Oeuvre ablesen, in dem die heilsame Kraft der Erinnerung den Teufelskreis aus Ersatz- und Zwangshandlungen löst. In Exotica (1994), Egoyans wohl populärstem Film, in dem alle die Erinnerung an einen sexuellen Missbrauch teilen - oder besser: vermeiden, wischt eine einzige sachte Berührung das ganze Arrangement aus Abwehrstrategien beiseite, es kommt zu Erinnerung, Trauer, Kontakt. Der Schlusssatz von Felicias Journey, Egoyans letztem Film (1999) lautete "Heilung kann beginnen."
Bereits durch die frühen Filme ziehen sich vage Spuren, Anzeichen dafür, dass die dysfunktionale kanadische Filmfamilie armenische Wurzeln aufweist: In The Adjuster (Der Schätzer, 1991), der Geschichte eines pyromanischen Vertreters von Brandschutz-Versicherungen, wird bereits armenisch gesprochen. Und in Calendar (1993) spielten weite Teile der Handlung in Armenien selbst, durch Video-Aufzeichnungen als Erinnerungsfragmente ausgewiesen. Bei The Sweet Hereafter (1997) schließlich ließ sich die Situation der von dem Verlust einer ganzen Generation gelähmten Dorfbevölkerung als Parabel auf die Ereignisse vom Anfang des letzten Jahrhunderts verstehen.
Jetzt, in Ararat, verzichtet Egoyan, dessen Großeltern selbst Überlebende der jungtürkischen Vernichtungsaktionen waren, auf künstlichen Nebel und bringt alles auf einen Punkt. Die Einsamkeit, die seine Charaktere seit jeher umgibt, wird an eine sehr konkrete kulturelle wie persönliche Entfremdung rückgebunden: Jeder der an dem Film Saroyans Beteiligten ist bewusst oder unbewusst tief geprägt von den Folgen der historischen Katastrophe. Die Vergangenheit ist präsent, und verbindet die ermordeten Urgroßelten über die Großväter (Saroyan/ Charles Aznavour), die Eltern (Ani/Arsinee Khanjian) schließlich mit der jüngsten Generation (Raffi/ David Alpay).
Das Diktum "Wer erinnert sich heute noch an die Armenier?", mit dem Hitler seine eigenen Vernichtungsaktionen rechtfertigen wollte, schien zumindest in der Populärkultur lange Zeit seine Richtigkeit zu behalten. Franz Werfels Romantragödie Die vierzig Tage des Musa Dagh stand in Hollywood schon mehrmals zur Verfilmung an und wurde wieder in die Schubladen verbannt. So gibt es bis heute, nach fast neunzig Jahren, zwar Dokumentarfilm-Material, doch keine fiktionale Aufbereitung. Wohl wissend, wie schwierig es um die "authentische" Repräsentation des Vergangenen bestellt ist, verfremdet Egoyan die - nach Augenzeugenberichten inszenierten - historischen Massaker zum Film-im-Film. Und wenn Edward, der Regisseur, die Stadt Van auf der Studiokulisse fälschlicherweise am Fuße des Berges Ararat ansiedelt - weil der so ein schönes Symbol ist - zeigt das gleichfalls die Perspektivität jeder historischen Rückschau.
Und auch Ali sieht sich als Bluthund Cevdet Bey mit einer völlig anderen Version türkischer Geschichte konfrontiert, als ihm beigebracht wurde. Selbstredend ist es Egoyan nicht ums Aufrechnen, Polemisieren oder um Rache zu tun (ein Nebenstrang thematisiert auch die bis in die jüngste Vergangenheit reichenden Anschläge armenischer Terrorgruppen). Es geht bei Egoyan nicht um Lüge oder Wahrheit, sondern um die unbedingte Wirklichkeit der Gefühle.
Als roter Faden, der all die verschiedenen Schicksale, Zeit- und Handlungsebenen zusammenhält, dient ein langes Gespräch an einer kanadischen Zollstation. Raffi, Anis Sohn, versucht den Zollbeamten David davon zu überzeugen, dass sich in dem Paket, das er einführen will, dokumentarisches Filmmaterial vom Ararat befindet und nicht etwa Drogen. Der Beamte will zu einer eigenen Entscheidung kommen - einem moralischen Urteil -, ohne die Black Box öffnen zu müssen.
Wer sich nun anlässlich des türkischen Propagandafeldzuges gegen Ararat zum EU-Zöllner aufschwingen will, sollte einiges bedenken: Zum einen sei an den unangenehmen Umstand erinnert, dass die Gemetzel von 1915/16 mit wissentlicher Duldung deutscher Staatsbeamter und Offiziere stattfand. Zum anderen entspringt die Erinnerungsblockade der Türkei, ihre Weigerung, sich an Ereignisse vor der ruhmreichen Republikgründung durch 1922 zu erinnern, ebenfalls einer historischen Wunde: Vor Atatürk drohten die Reste des Osmanischen Reiches tatsächlich von den Westmächten aufgeteilt zu werden. Angesichts dieses Geburtstraumas könnte etwas überlegter mit Totschlagargumenten umgegangen werden. Vielleicht hilft auch einfach eine sachte Berührung ...
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