Eine Beschneidung war bei uns nicht nötig. Mein Florian* hatte nie eine andere Möglichkeit, als Außenseiter zu sein. Trotz einer hohen Intelligenz kann er keine fünf Wörter richtig schreiben: er ist Legastheniker.
Bereits in seinem Krabbelalter seid ihr mir ins Auge gestochen. Ihr habt im Kreis um den Sandkasten herum gehockt und jeden Handgriff eurer Kinder instruiert, als seien es ferngelenkte Roboter. Zuhause habt ihr Auflistungen in den Schubladen gehabt, über die motorische Entwicklung bei Kleinkindern, habt die euren daran gemessen und euch gegenseitig vorgeprahlt, wie toll sich die Kleinen entwickeln. Manchmal war mir ein Blick auf eure Bücherregale vergönnt und ich war erstaunt darüber, wieviele Gebrauchsanweisungen ihr da gehortet habt. War jemand nicht da, seid ihr über die "Störungen" bei deren Kinder hergezogen und über deren Erziehungsfehler. Wir sind gleich am Anfang schon aus dem Raster gefallen. Allein schon, weil Florian die billigen Fixies an hatte, damit das Windelscheißen unangenehm ist und er sich das abgewöhnt. "Rabeneltern" habt ihr wahrscheinlich gesagt. Das Kind braucht doch Pampers mit dem Vorführ-Effekt. Ich habe auch die mißbilligenden Blicke gespürt im Kindergarten, weil Florian mit seinen robusten, geflickten Latzhosen suhlen und sauen durfte, während eure Kinder in ihren bunten Fummeln neidisch guckten. Selten habt ihr mal mit euren Kindern geredet, ihr habt an einem Strang doziert. Da habe ich mich noch lachend und arrogant darüber hinweg gesetzt, weil ich nicht ahnte, wie gefährlich ihr seid. Damals war Florian noch die Fröhlichkeit in Person.
In der Schule ging es dann los. Da gab es die strahlenden Vorzeige-Kinder und es gab die anderen. Die Dummen, die Aufsässigen, die Häßlichen, die Krüppel, die Stillen, die mit einer dunklen Hautfarbe und eben Florian mit seinen Schreibfehlern. "Weg mit denen" - so hieß die Parole von der Grundschule bis zum Abitur. Sie haben das Leistungsniveau gesenkt, sie haben die Aufmerksamkeit des überlasteten Lehrpersonals über die Gebühr beansprucht, sie wirkten bedrohlich und rochen nach Ansteckung - sie gehörten einfach nicht zwischen die perfekten Kinder. Für sie gab es doch besondere Schulen. "Weg mit denen" - so sprach es aus dem Mund von Mitschülern, Lehrern in der Sprechstunde und Vätern und Müttern am Elternabend. Natürlich gab es auch die anderen. Viele andere sogar. Aber die reichten nicht aus. Und spätestens, als in der achten Klasse alle Makel-behafteten ausgedünnt waren, da wurde Florian einsam und still, denn von der Legion der Normalen wurde er gnadenlos ausgegrenzt.
Mittlerweile habe ich schon Generationen von Kindern beim Straucheln zugeschaut. Nicht nur die Dummen, Aufsässigen, Häßlichen, Krüppel, Stillen oder Andersfarbigen - immer mehr auch die mit wenig Geld. Nein auch die tollen Kinder ächzen unter dem Anspruch, den ihr an sie stellt. Psychotrope Substanzen wie Ritalin werden bereits mit Sattelschleppern zu den Kindern kutschiert und bei den Jugendpsychologen bekommt man auf Monate keinen Termin und ihr nährt doch eine ganze Armee von Ärzten und Pädagogen. Aber wenn irgendwo das Wort "Gesamtschule" fällt, dann rotten sich gleich Eltern zusammen, weil das Sortiersystem in Frage gestellt wird. Klar, das beste, schönste, begabteste oder reichste Produkt wollt ihr als Ergebnis eurer Erziehung vorweisen. Deutschlands Eltern suchen die Generation der Superstars, die Freizeit wird in Leistungsabzeichen und Pokalen gemessen. Ihr kennt überhaupt keine Grenze mehr. Selbst wenn Jugendliche mal ohne Sozialpädagogen im Rücken feiern wollen, dann hetzt ihr ihnen die Polizei auf den Hals, voll Sorge das sie in der Pubertät dem Korsett der Normierung entfliehen könnten. Könnt ihr es nicht beim Polieren eurer Mercedesse und Küchen bewenden lassen? Müsst ihr das auf die Kinder ausdehnen? Ihr seid diejenigen, die sie kaputt machen - nicht die Leute, die nicht eurem Raster entsprechen.
Ihr seid es, die jetzt am lautesten schreien, während sie im Kreise um Juden und Muslime stehen und mit dem Finger auf sie zeigen. Ihr macht ein Irrsinns-Geschrei inmitten einer desaströsen Kultur der Kindervergötzung. Hinter dem Gerede um die Vorhaut steckt die Kompensation einer Massenverstümmelung von eurer Seite. Und ihr seid es, auf die endlich auch mal ein Finger weisen sollte.
Kommentare 10
Wenn man über gesellschaftliche Fragen sinniert, sollte man immer einräumen, das es alles und jeden gibt. Nicht allzu versteckt gibt es auch einen Anarc, der Ansprüche an sein Kind gestellt hat. Erfreulich, wenn sich hier niemand von dem Text angegriffen fühlt und die Aspekte konsequent verneint. Als Kampfschrift formuliert wendet er sich an ein Extrem, das bis auf Einzelfälle von Eltern, die wohl die meisten Leute ätzend finden, nur in der Masse deutlich wird.
Vielen Dank. Ich hoffe, die Sense läßt sich auch als Einhandwaffe gebrauchen, da ich die Linke brauche, um den Schrei des anaphylaktischen Schocks auf Level 7 zu wirken.
Es ist oft so, das Außenseiter einen ausgeprägten Leistungszwang in sich selbst aufbauen. Das ist ganz besonders bei leichten Makel der Fall, beispielsweise einem komischen Nachnamen. Die Regel dürfte aber sein, das Menschen mit Handycap eher scheitern. Sogar eine außergewöhnliche Intelligenz kann dazu führen. Ein Freund von mir ist Pädagoge und kratzt bei Jugendlichen um die 17 die Reste zusammen, mit dem unterhalte ich mich oft. Die institutionalisierten Hilfen in der Schule, durch das Jugend- oder Sozialamt sind Katastrophen und er muß in der Regel eher gegen sie kämpfen, als das sinnvolle Unterstützung von selbst käme. Es gibt auch brandgefährliche Mühlen: ein nicht unbeträchtlicher Teil der Ärzteschaft geht absolut leichtfertig mit Psychopillen zu Werke.
Was die Geschichte anbelangt: der Mensch ist grundsätzlich zum Altruismus und zur Solidarität fähig. Ein Geschichtsbuch mag man zwar am liebsten gleich wieder zur Seite legen, aber einzelne Seiten darin offenbaren Erstaunliches.
Netter Beitrag, der absolut paßt. Allerdings hat es die "Vorderbänker" schon immer gegeben. Was sich verschärft hat, das ist der Gruppendruck, unbedingt dazu gehören zu müssen. Und auf den Hauptschulen, machen die Lehrer Freudensprünge, wenn sich überhaupt mal ein Vorderbänker an die Schule verirrt.
Gute Brücke zu einem anderen Aspekt. Die Frau Doktor von der Uniklinik, welche die Legasthenie diagnostiziert hat, eröffnete mir das sowohl das Messen mit den anderen auf dem Gymnasium als auch eine Schule, wo er unterfordert ist, ihn unglücklich machen würde. Ich solle ihn nach Möglichkeit auf eine Privatschule schicken, dort wäre der Druck nicht so hoch und die Förderung individueller. Gute Schulen gibt es anscheinend nur gegen Cash.
Ich habe ihre Beiträge nicht als knüppelharte Gangart empfunden, höchstens als verbissen. Die wirklich knüppelharten Äußerungen, die wiederrum mich zu so einem verbissenen Widerspruch getrieben haben, finden sich fast durchweg nur in anderen Foren.
Das mit dem Facebook-Brief werde ich morgen mal tun.
Danke.
"Ihr seid es, die jetzt am lautesten schreien, während sie im Kreise um Juden und Muslime stehen und mit dem Finger auf sie zeigen. Ihr macht ein Irrsinns-Geschrei inmitten einer desaströsen Kultur der Kindervergötzung. Hinter dem Gerede um die Vorhaut steckt die Kompensation einer Massenverstümmelung von eurer Seite. Und ihr seid es, auf die endlich auch mal ein Finger weisen sollte."
Mir ist neu, dass Sie mich, mein Leben und meine Arbeit kennen. Also unterlassen Sie es bitte, mir - versteckt hinter einem feigen "Ihr" - hier solche Dinge zu uinterstellen.
Aber zumindest solten Sie mitbekommen haben, dass ich mich in dieser Community mit der Zwangsbeschneidung von wehrlosen Kindern auseinandergesetzt habe und nicht mit Lese- und Rechtschreibschwächen.
Da Sie sich hier aber offenbar nicht mit der Zwangsbeschneidung auseindersetzen, sondern mit Ausgrenzung, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie den Beitrag entsprechend umschreiben würden.
Ansonsten noch dies: eine meiner frühesten Grundschulerinnerungen erzählt von einem johlenden Kreis von Mitschülern, die im Kreis um einen anderen herumstehen. Ob und wie ich ihm geholfen habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich ihn hinterher getröstet und nach Hause gebracht. Danach waren wir Freunde.
Gegenfrage: Wer schützt mich vor Kommentar-Stalkern, Verleumdern und (Zitat-)Fälschern?
Da möchte ich mich Hardbob anschließen. Das "ihr" ist doch nur ein rhetorisches Mittel und soll diejenigen ansprechen, die sich angesprochen fühlen. Ich selbst bin ja auch nicht völlig frei davon, in meinem Kind ein Prestigeobjekt zu sehen, an das ich subtil und auch offen Ansprüche stelle. Das Maß und die Grenze solcher Ansprüche macht den Unterschied.
Und zum wiederholten Mal: die Beschneidungsgegner sind keine geistig uniformierte Truppe. Ich nehme sehr wohl die Argumente von vielen ernst und beschäftige mich damit. Das gilt aber für das Gros dieser Leute nicht, wie an den Kommentarspalten vieler Portale eindeutig abzulesen ist. Und ein nicht unerheblicher Teil formiert sich auch zu dem grölenden Mob, der mir so auf dem Magen liegt.
Was soll ich mir dazu denken, wenn sie sich immer wieder mit diesen solidarisieren?
Ich solidarisiere mich hier - wenn überhaupt mit etwas und jemandem - mit den betroffenen Jungen und mit dem Grundgesetz. Insofern wundere ich mich, das Sie ausgerechnet mich - und die, mit denen Sie mich in einem Lager sehen - als Gegner betrachten. Kann es sein, dass Sie dazu neigen, sich "false friends" zu suchen?
Die ständigen Gruppen- und Lagerzuweisungen nehmen in meinen Augen jedenfalls die Befürworter der Zwangsbeschneidung Wehrloser vor.
Wenn ich mich persönlich dagegen wehre, dann u.a. auch deshalb, um Leuten wie Ihnen klar zu machen, dass Sie mit Ihren ideologischen Splittergranaten vermutlich fast ausschließlich "Unschuldige" treffen. Oder glauben Sie im Ernst, irgendein Rechtsaußen schert sich auch nur die Bohne um solche Vorwürfe. Die lachen sich ins Fäustchen, wenn Linke und demokratisches Bürgertum sich gegenseitig die Köpfe einschlagen - und sammeln fleißig allerlei nützliche Links zu tatsächlich oder vermeintlich Antisemitischem/ Antiislamischem, die als Kollateralschaden dabei anfallen.
Was hier also von den zwanghaften Zwangsbeschneidungslobbyisten an Hetze betrieben wird, nützt denen, die sie angeblich bekämpfen doppelt. Weimar lässt grüßen....