Wer schützt uns vor den Beschützern?

Die Beschneidung. Welch Makel auf dem Bauplan des perfekten Kindes! Ich habe 21 Jahre unter den Menschenzüchtern leiden müssen - Zeit für eine Abrechnung.

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Eine Beschneidung war bei uns nicht nötig. Mein Florian* hatte nie eine andere Möglichkeit, als Außenseiter zu sein. Trotz einer hohen Intelligenz kann er keine fünf Wörter richtig schreiben: er ist Legastheniker.

Bereits in seinem Krabbelalter seid ihr mir ins Auge gestochen. Ihr habt im Kreis um den Sandkasten herum gehockt und jeden Handgriff eurer Kinder instruiert, als seien es ferngelenkte Roboter. Zuhause habt ihr Auflistungen in den Schubladen gehabt, über die motorische Entwicklung bei Kleinkindern, habt die euren daran gemessen und euch gegenseitig vorgeprahlt, wie toll sich die Kleinen entwickeln. Manchmal war mir ein Blick auf eure Bücherregale vergönnt und ich war erstaunt darüber, wieviele Gebrauchsanweisungen ihr da gehortet habt. War jemand nicht da, seid ihr über die "Störungen" bei deren Kinder hergezogen und über deren Erziehungsfehler. Wir sind gleich am Anfang schon aus dem Raster gefallen. Allein schon, weil Florian die billigen Fixies an hatte, damit das Windelscheißen unangenehm ist und er sich das abgewöhnt. "Rabeneltern" habt ihr wahrscheinlich gesagt. Das Kind braucht doch Pampers mit dem Vorführ-Effekt. Ich habe auch die mißbilligenden Blicke gespürt im Kindergarten, weil Florian mit seinen robusten, geflickten Latzhosen suhlen und sauen durfte, während eure Kinder in ihren bunten Fummeln neidisch guckten. Selten habt ihr mal mit euren Kindern geredet, ihr habt an einem Strang doziert. Da habe ich mich noch lachend und arrogant darüber hinweg gesetzt, weil ich nicht ahnte, wie gefährlich ihr seid. Damals war Florian noch die Fröhlichkeit in Person.

In der Schule ging es dann los. Da gab es die strahlenden Vorzeige-Kinder und es gab die anderen. Die Dummen, die Aufsässigen, die Häßlichen, die Krüppel, die Stillen, die mit einer dunklen Hautfarbe und eben Florian mit seinen Schreibfehlern. "Weg mit denen" - so hieß die Parole von der Grundschule bis zum Abitur. Sie haben das Leistungsniveau gesenkt, sie haben die Aufmerksamkeit des überlasteten Lehrpersonals über die Gebühr beansprucht, sie wirkten bedrohlich und rochen nach Ansteckung - sie gehörten einfach nicht zwischen die perfekten Kinder. Für sie gab es doch besondere Schulen. "Weg mit denen" - so sprach es aus dem Mund von Mitschülern, Lehrern in der Sprechstunde und Vätern und Müttern am Elternabend. Natürlich gab es auch die anderen. Viele andere sogar. Aber die reichten nicht aus. Und spätestens, als in der achten Klasse alle Makel-behafteten ausgedünnt waren, da wurde Florian einsam und still, denn von der Legion der Normalen wurde er gnadenlos ausgegrenzt.

Mittlerweile habe ich schon Generationen von Kindern beim Straucheln zugeschaut. Nicht nur die Dummen, Aufsässigen, Häßlichen, Krüppel, Stillen oder Andersfarbigen - immer mehr auch die mit wenig Geld. Nein auch die tollen Kinder ächzen unter dem Anspruch, den ihr an sie stellt. Psychotrope Substanzen wie Ritalin werden bereits mit Sattelschleppern zu den Kindern kutschiert und bei den Jugendpsychologen bekommt man auf Monate keinen Termin und ihr nährt doch eine ganze Armee von Ärzten und Pädagogen. Aber wenn irgendwo das Wort "Gesamtschule" fällt, dann rotten sich gleich Eltern zusammen, weil das Sortiersystem in Frage gestellt wird. Klar, das beste, schönste, begabteste oder reichste Produkt wollt ihr als Ergebnis eurer Erziehung vorweisen. Deutschlands Eltern suchen die Generation der Superstars, die Freizeit wird in Leistungsabzeichen und Pokalen gemessen. Ihr kennt überhaupt keine Grenze mehr. Selbst wenn Jugendliche mal ohne Sozialpädagogen im Rücken feiern wollen, dann hetzt ihr ihnen die Polizei auf den Hals, voll Sorge das sie in der Pubertät dem Korsett der Normierung entfliehen könnten. Könnt ihr es nicht beim Polieren eurer Mercedesse und Küchen bewenden lassen? Müsst ihr das auf die Kinder ausdehnen? Ihr seid diejenigen, die sie kaputt machen - nicht die Leute, die nicht eurem Raster entsprechen.

Ihr seid es, die jetzt am lautesten schreien, während sie im Kreise um Juden und Muslime stehen und mit dem Finger auf sie zeigen. Ihr macht ein Irrsinns-Geschrei inmitten einer desaströsen Kultur der Kindervergötzung. Hinter dem Gerede um die Vorhaut steckt die Kompensation einer Massenverstümmelung von eurer Seite. Und ihr seid es, auf die endlich auch mal ein Finger weisen sollte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Anarc

Anarchist, kurz vor 50 und aus Süddeutschland. Undogmatisch pragmatisch. Anonymität wegen Gefahren für den Arbeitsplatz leider unvermeidlich.

Anarc

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