Adieu, DDR!

ZEHN JAHRE WIRTSCHAFTS- UND WÄHRUNGSUNION Mit der Einführung der D-Mark geht die Geschichte des Staates DDR zu Ende. Irgendwann in den nächsten Wochen wird noch ein formaler Schlußstrich ...

Mit der Einführung der D-Mark geht die Geschichte des Staates DDR zu Ende. Irgendwann in den nächsten Wochen wird noch ein formaler Schlußstrich gezogen werden. Mit der Mentalität von Siegern sind die Herrschenden bestrebt, dieses Land, seine Geschichte, seine Kultur, seine vielfältige Identität auszulöschen oder umzutauschen wie die DDR-Mark in die D-Mark. Ich bin in Abschiedsstimmung, obwohl ich seit langem weiß, daß die DDR keine Perspektive mehr besitzt. Die Chancen sind seit dem 14. August 1961 verspielt worden.

Es ist notwendig, und es fällt so schwer, diesen Schnitt im eigenen Denken und Empfinden nun zu vollziehen - es gibt keine DDR mehr, es wird sie nicht mehr geben, und das, was uns jetzt erwartet, ist eine kapitalistische Gesellschaft, die offensichtlich sogar Gefahr läuft, weniger modern, demokratisch, rechtsstaatlich und sozial zu sein als jene, die sich im Wettbewerb mit dieser schwachen DDR entwickelt hatte. In meinen Erinnerungen werden sich die tiefe Enttäuschung, der Zorn über Selbstherrlichkeit, Menschenverachtung und Dummheit mit einem Heimatgefühl mischen, das sich eben doch auf das Land zwischen Elbe und Oder erstreckt hat. Lebendig bleiben wird die Vision einer sozial gerechten und humanistischen Gesellschaft ebenso wie die Furcht, daß meine Ideale jemals wieder mißbraucht werden könnten. Ich bin nicht bereit, meine Traurigkeit zu verbergen, ich bin nicht bereit, mich ihr unterzuordnen.

Ich blicke über die Grenzen dieses Landes auf eine Welt, die tausendfach zersplittert ist. Ich blicke über die verschwindende Grenze an der Elbe auf eine Gesellschaft, die selbstzufrieden ihre eigene radikale Veränderungsbedürftigkeit ignoriert, weil sie nur die Dringlichkeit des Wandels im Osten sieht, und deren Sattheit in nicht geringem Umfang auf dem Verhungern in Afrika beruht. Ich blicke über die Grenze an der Oder, die zu einer Grenze zu werden droht, die mehr denn je teilt, statt zu verbinden, und die zugleich bedroht ist von jenen, die sich noch immer nicht mit ihr abfinden, weil der Fall der DDR für sie der Auftakt ist, den Zweiten Weltkrieg 45 Jahre nach seinem Ende zu gewinnen. Vieles im gesellschaftlichen und politischen System der BRD ist besser als das, was wir in der DDR hatten. Das Problem ist nur: Es ist nicht gut, gemessen an den Problemen moderner Gesellschaften und der Menschheit in der Gegenwart und erst recht in den nächsten Jahrzehnten.

(Auszug einer Kolumne, die am 30.Juni 1990 von der Zeitung Neues Deutschland abgedruckt wurde.)

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