Die Machtperspektive ist nicht vorbereitet

Rot-Rot-Grün Die linken Parteien haben es versäumt, das Vertrauen in eine gemeinsame Vision aufzubauen
Ausgabe 36/2017

Es hat lange gedauert, um die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Dass sich SPD und Linkspartei drehen müssten, droht auch lange zu dauern. Schon kurz nach der Bundestagswahl 2013 schrieb Stephan Hebel in Deutschland im Tiefschlaf über das „linke Lager“, SPD, Grüne und Linke hätten kläglich versagt. „Sie unterließen es, die notwendige Mehrheits- und Machtperspektive zu eröffnen.“

Die parlamentarische Mehrheit nach 2013 wurde nicht genutzt. Alle drei Parteien ließen sie über die Legislatur hinweg liegen – außer bei der Abstimmung zur Ehe für alle. Vor allem die SPD und die Linke hatten tiefe Differenzen – geschichtliche, aktuelle und persönliche. Die gemeinsamen Wurzeln von SPD, KPD, SED, PDS oder der Linken erwiesen sich nicht als Kitt, sondern verschärften die gegenseitige Ablehnung. Ebenso war es mit der Bildung der WASG und ihrer Fusion mit der PDS zur Partei „Die Linke“.

2017 hat sich manches geändert. In Thüringen, Brandenburg und Berlin koaliert Rot-Rot-Grün. Und die SPD schließt eine bundespolitische Zusammenarbeit mit der Linken nicht mehr aus. Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter trafen sich. Auch eine Mehrheit der Linken-Parteiführung wäre heute grundsätzlich dazu bereit, mit der SPD zu koalieren. Doch eine Mehrheit nach der Wahl ist inzwischen so gut wie ausgeschlossen.

Brandt und Bahr machten es

Das wichtigste Manko aber ist, dass die Linke in ihrer Gesamtheit es versäumt hat, die Öffentlichkeit einzubeziehen und auf Rot-Rot-Grün vorzubereiten, schon gar nicht wurde diese Konstellation als das große und gemeinsame gesellschaftliche Projekt diskutiert, das es wäre. Erinnern wir uns, wie gut Willy Brandt, Egon Bahr und Walter Scheel die Ablösung der CDU/CSU von der Bundesregierung in den 1960er Jahren vorbereiteten. Vor dieser Folie wird klar, dass SPD und Linke (und Grüne) auch 2017 keine „notwendige Mehrheits- und Machtperspektive“ haben; weil sie die nötigen Vorgespräche nicht geführt und so kein Vertrauen aufgebaut haben. Wer sich das ansieht, was noch immer Wahlkampf genannt wird, der wird bemerken: Von „Kampf“ (außer in Wahlprogrammen) ist nichts zu spüren, weil alle Parteien, SPD und Linke insbesondere, ihre „Wahlkämpfe“ bei Agenturen einkaufen. Sehe ich mir meine Partei an, so finde ich auf den Großflächenplakaten der beiden Spitzenkandidaten Angriffe gegen Frau Merkel (Bartsch) und das Kapital, die Banken (Wagenknecht). Aber das Ringen um sozial ausgeschlossenen Menschen fehlt fast völlig – obwohl man sich in den Programmen und Parlamentsanträgen für sie geradezu zerreißt. Der direkte Kontakt zum Bürger scheint abgerissen. Meine eigene Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern wirbt auf ihrer Großfläche mit dem Slogan „Wählbar, nicht käuflich“. Der ist, erstens, ein Plagiat der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel. Zweitens wäre zu fragen, warum Menschen, die reale Sorgen und Wünsche haben, sie mit diesem Motiv wählen sollen.

Das ist das Problem, das mich umtreibt. Kurz vor der Wahl 2013 fragte Wolfgang Merkel in der FAZ rhetorisch: „Krise? Krise!“ Er analysierte, dass gerade die sozial Benachteiligten sich an Wahlen nicht mehr beteiligen. Inzwischen tun sie es – indem sie AfD wählen. Sie haben ein Ventil für ihren Unmut gefunden. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in den USA oder in Großbritannien feststellen. Es gibt aber auch gegenteilige Beispiele: die Ergebnisse für Labour unter Jeremy Corbyn oder für Bernie Sanders. Hier könnten die Linkspartei und die SPD lernen, wie sich neue Schichten und Menschen erreichen lassen.

Natürlich könnten SPD und die Linke auch darauf warten, dass wie 1998 eine breite Stimmung („Kohl muss weg!“) entsteht. Doch Geschichte wiederholt sich eben nicht oft. Wenn die SPD 2017 in die Opposition gehen sollte, wäre die Partei freier, mit der Linken ein wirklich alternatives Projekt vorzubereiten. In den Programmen beider Parteien gäbe es bereits heute viele gemeinsame Positionen. Vor allem in der gesellschaftlichen Sozialpolitik schlummert jenes Projekt, mit dem beide Parteien eine große Öffentlichkeit und vor allem jene Menschen mitreißen könnten, für die sie sich in ihren Papieren einsetzen.

Beide Parteien wollen kein neoliberales Weiter-so. Sie kritisieren, dass sich die soziale Spaltung unserer Gesellschaft (und Europas) gefährlich zuspitzt. Sie wollen eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftspolitik. Ich hoffe, dass beide Parteien genau auf diesem Gebiet ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie könnten den Begriff „Alternative“ zurückerobern – und ihm seinen großen Inhalt wiedergeben. Es ist höchste Zeit. Beide Parteien wissen es.

André Brie, 67, ist ein Querdenker der Linken. Er war Europaabgeordneter und bis 2016 im Landtag Mecklenburg-Vorpommern

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