Die Befürworter der EU-Verfassung verteidigen sich gern mit dem Argument, sie sei ein Fortschritt gegenüber dem Vertrag von Nizza aus dem Jahr 2000. Abgesehen davon, dass Nizza gerade in den entscheidenden Fragen der Bürger- und Menschenrechte ein allzu genügsamer Maßstab ist, wird damit das eigentliche Problem ignoriert - eine EU-Verfassung ist nach verfassungsrechtlichen Kriterien zu beurteilen und nicht mit staatlichen Verträgen zu vergleichen.
Für die großen Verfassungsdokumente - ob die amerikanische Bill of Rights, die in die französische Revolutionsverfassung aufgenommene Erklärung der Menschenrechte oder das deutsche Grundgesetz - gilt eben Hegels Forderung: "Unter Verfassung muss die Bestimmung der Rechte, das ist der Freiheiten überhaupt, und die Organisation der Verwirklichung derselben verstanden werden." Die Europäische Union benötigt daher - sowohl wegen ihres Souveränitätsanspruchs gegenüber den Einzelstaaten als auch angesichts ihres radikalen Wachstums auf jetzt 25, ab 2007 sogar 27 Mitglieder - dringend eine Verfassung, die den Bürgern ihre Rechte und Freiheiten zurückgibt und eine europäische "Organisation der Verwirklichung derselben" erlaubt. Als durch den Vertrag von Nizza das Europaparlament gegenüber dem Europäischen Rat nicht emanzipiert wurde, erschien dies schon kritikwürdig. Meidet nun auch die Verfassung eine solche Zäsur, ist es erst recht nicht hinnehmbar. Wenn umgekehrt die bisherigen Verträge der europäischen Integration einen kalten Monetarismus oktroyierten, war das für jene, die ein soziales, solidarisches und kulturell reiches Europa wollen, Anlass, sich mit der politischen Realität in der EU auseinander zu setzen. Erhält eine solche Politik jedoch Verfassungsrang, wäre derartiger Widerstand verfassungsfeindlich.
Jede demokratische Verfassung ist vor allem Ausdruck der Souveränität, Freiheit und sozialen Zusammengehörigkeit der Bürger. Auch die EU-Verfassung beansprucht gleich zu Beginn, deren Willen verpflichtet zu sein. Nur beschränken sich die großen demokratischen Verfassungen gerade darauf, der Politik nur einen bürger- und staatsrechtlichen Rahmen vorzugeben. Im deutschen Grundgesetz wird nicht einmal eine Wirtschaftsordnung - geschweige denn eine bestimmte Wirtschaftspolitik - definiert. In der EU-Verfassung finden sich im ersten, eher deklaratorischen Teil zwar Begriffe wie sozialer Schutz (von einem "hohen Niveau des Sozialschutzes" wie im Vertrag von Nizza ist bezeichnenderweise nicht mehr die Rede), Gerechtigkeit oder Vollbeschäftigung, doch selbst bei diesen Grundrechten haben die Regierungen die Notbremse gezogen, indem mit der Aufnahme von "Erläuterungen zur Grundrechte-Charta" als Protokoll zum Verfassungsvertrag der Rechtsanspruch auf soziale Grundrechte klar abgeschwächt wird. Im Teil III, dessen Rechtsbindung für die EU-Kommission und gegebenenfalls den Europäischen Gerichtshof ohnehin entscheidend sein wird, ist ohnehin keine Rede mehr von "sozialer Marktwirtschaft", sondern nur noch vom Grundsatz "einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Wohl gemerkt, es geht hier nicht um einen wirtschaftstheoretischen Disput, sondern das Wesen einer europäischen Verfassung - das juristisch verbindliche Fundament künftiger EU-Politik mit ihrem oft sehr unmittelbaren Zugriff auf die Ökonomie der Mitgliedsstaaten und die soziale Wohlfahrt ihrer Bürger.
Ähnlich problematisch ist das sicherheitspolitische Credo der Verfassung. Mit der Verpflichtung auf das Völkerrecht und die UNO lassen sich bedeutsame Unterschiede zur derzeitigen Politik der USA herauslesen. Um so mehr ist mir unbegreiflich, wie leichtfertig die Verfassungsanhänger die verfassungsgeschichtlich einmalige und einmalig skandalöse Verpflichtung hinnehmen, die "militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern".
IAEA-Generaldirektor Mohamed El Baradei, hat gerade auf der Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen in New York erklärt, die Gefahr einer thermonuklearen Konfrontation sei noch nie so hoch gewesen. Und Kofi Annan sekundierte, wenn sich die Staatengemeinschaft nicht "mit vereinten Kräften" bemühe, werde "das Ziel einer umfassenden und vollständigen Abrüstung ein ferner Traum bleiben". Doch auf den fast 500 Seiten des europäischen Verfassungsvertrages findet sich das Wort "Abrüstung" nur in einem makabren Zusammenhang: "Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen...", heißt es. Abrüstung mit militärischen Mitteln? Europa stärkt seine Fähigkeit zur Intervention, um andere abzurüsten? Aufrüstung zur Abrüstung?
Das Scheitern der Verfassung durch ein Nein in Frankreich und den Niederlanden könnte eine große Chance für die EU und die europäische Integration sein. Zum einen halte ich einen verfassungsrechtlich geschützten Wirtschaftsliberalismus für völlig ungeeignet, die drohende Desintegration und Renationalisierung in der EU zu verhindern. Auch die wachsende Kluft zwischen "europäischen Bürgern" und "europäischer Politik" wird sich dadurch nicht überwinden lassen. Es ist schon bezeichnend, dass kaum jemand die Verfassung liest, weil sich herumgesprochen hat, dass sie unlesbar ist. Zum anderen sind die Abkehr vom Sozialstaat und die Absage an die Abrüstung zwar aktuell, aber nicht modern, sondern der Weg zurück in einen sozial zerstörerischen, gewalttätigen und archaischen Kapitalismus. Es sollte nicht auch noch eine Verfassungsgrundlage für "die reinste Verschwörung der Reichen" geben, "die unter dem Namen und Titel des Staates für ihren eigenen Vorteil tätig sind." (Thomas Morus)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.