Häutung

Kehrseite I Ich arbeite schon viele Jahre als Künstler, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. ...

Ich arbeite schon viele Jahre als Künstler, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Im Moment bittet man mich zu Lesungen, so fahre ich an einen alten Wohnort von mir, Sie sind gewissermaßen Ehrenbürger, sagt man mir schmeichlerisch, die verfallenen Häuser von damals sind schick renoviert, der Verein will das Andenken auch an die Künstler, die im Karreé wohnten, bewahren. Die jetzigen Bewohner kommen aus dem alten Westdeutschland, so genau wissen sie nicht, wer ich bin, aber sie wollen mich sogar malen, wie auch Herrn Thierse, der es bis in den Bundestag geschafft hat. Ich sitze, ganz seltenes Tier, Modell.

Beim nächsten Mal scheint es anders zu sein, hier kennt man mich von früher, damals war ich als gefeiertes Mitglied einer berühmten Band bei unserem Fanclub zu Gast, beim Schlachtfest, was in Strömen von Alkohol ertränkt wurde. Diesmal im neu entstandenen Café des gleichen Ortes, an der Ecke. Der alte Fanclub ist gekommen, daneben neue Fans, Zugezogene aus dem Westen, die Frau sagt mit norddeutschem Akzent: Sie sind so ganz anders als all die andern Ostdeutschen. Die Besitzer, die auch Esoterisches und Bibeln verkaufen, verraten mir, wir haben das Geschäft wieder bekommen, mein Vater war enteignet worden von den Kommunisten, wir waren zu DDR-Zeiten unter dem Dach der Kirche. Während meiner Darbietung werden die Mienen der Ostdeutschen immer finsterer, die Mienen der Westdeutschen immer fröhlicher, am Ende fragt mich der Lokalreporter: Jetzt nur mal privat für mich, müssen Sie immer davon reden, dass Sie Jude sind? Ich zucke hilflos mit den Schultern.

Am nächsten Morgen laden mich die Veranstalter noch mal zum Frühstück ein: Wissen Sie, sagt der Mann verschwörerisch, wir treten jetzt zum Judentum über. Nein, staune ich. Sehen Sie den Mann dort an der Frühstückstafel, er ist mein Chirurg, er hat mich beschnitten. Ich sehe den Mittfünfziger mit Vollbart mitfühlend an. Ich war in Israel bei einer Rabbinerversammlung, beim zweiten Mal haben sie schon Deutsch mit mir gesprochen, sagt er wieder triumphierend. Wollen Sie richtig koscher essen, frage ich mit Blick auf die gut gedeckte Tafel. Kein Problem, antwortet er, Vegetarier sind wir doch schon.

André Herzberg, geboren 1955 als jüngster Sohn kommunistischer Eltern, ist Musiker und Autor. Er lebt in Berlin.


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