Manche Dinge lassen sich eben nicht vermeiden. Ich hatte meinem Sohn versprochen, dieses Ziel anzusteuern; die Werbung, seine Mitschüler, der Druck von außen, was war schuld? Ich konnte ihm den Kompromiss abringen, dass wir nur für einen Tag dort sein würden, uns aber ansonsten in Paris rumtreiben.
Wir sind mit der Vorortbahn gefahren. Bei der vorletzten Station wurde er nervös. Er beobachtete die anderen Kinder im Abteil, dann scharrte er mit den Füßen, stand auf und stellte sich an die Tür für eine gute Ausgangsposition. Ich musste nachziehen. Die Tür ging auf, er rannte los, ich an seiner Hand hinterher. Mit einem Blick hatte er entschieden, in welche Richtung unser Lauf ging. Erst nach und nach, als wir im unendlichen Strom der anderen waren, ließ sein Ziehen an meiner Hand nach. Wir strudelten in ein buntes Loch.
Schon der Park, erst recht das Schloss, ließen uns stehen bleiben für die Berührung. Die Farben waren zu bunt. Aber nichts gab nach unter dem Druck unserer Hände. Ich achtete auf das Schild Kasse, aber es erschien nicht. Statt dessen gab ich unmerklich das Geld. Die Musik wurde lauter, sie sollte uns von nun an nicht mehr verlassen, wie auch der süßliche Geruch. Aber die Quelle war immer verdeckt, nirgends Lautsprecher, auch die Restaurants oder Fressbuden waren integriert.
Vater hatte mich abgeholt. Dieser Tag war Ritual. Mutter hatte den Kartoffelsalat schon gemacht, mit Apfelstücken, er stand abgedeckt unter einem Teller, für abends. Wir wühlten uns durch die Menge, bis wir vorn an der Absperrung standen. Das Dröhnen wurde so stark, dass es meinen Körper ganz ausfüllte, bis er vibrierte. Auf der Straße waren schon Dellen zu sehen, dann kamen wieder neue Fahrzeuge. Von dem Mann sah man nur die schwarze Kappe. Jetzt waren die Kettenglieder, die sich um die Räder und dann in den Asphalt gruben, vor meinen Augen, der schwarze Rauch aus dem Panzer reizte, dann schon der nächste, der einen Ruck machte und direkt auf mich zu fuhr, im letzten Moment korrigierte er wieder brav hinter den vorigen. Ich schaute hoch zum Vater, der wie alle anderen gebannt nach vorn sah. Ich hatte unwillkürlich den Mund geöffnet. Hinter dem Dröhnen war die Stimme: unsere Jungs, ich wendete den Kopf zu den Lautsprechersäulen, graugrün wie die Panzer, wenn ich mich konzentrierte, konnte ich noch das Echo hören.
Mein Sohn hatte die Karte, die wir am Eingang gefunden hatten, in der Hand, zuerst zum Frontierland, die Bahn sah man von weitem auf der Insel um den Berg fahren. Noch standen wir am Ufer, am Tor zogen wir Wartemarken, mit denen kamen wir später rein. Trotzdem wieder eine Schlange, sie gehörte zur Inszenierung. Es war ein Bergwerk, die Gleise morsch, aber erst mal ging es in den Tunnel, dann waren auch wir auf der Insel. Alles hob die Arme und juchzte, auch ich.
Vater und ich hatten uns in den Strom der Werktätigen eingereiht. Nun erschien im Laufen die Tribüne, dort waren die Besten und er. Wir grüßen die Belegschaft des Rundfunks, hoch, hoch hoch! Wir warfen die Arme rhythmisch nach oben. Noch besser wäre es gewesen, selber auf der Tribüne zu stehen, gleich bei ihm. Ich musterte scharf die Reihen und wirklich, dort oben waren auch Kinderhände, wo aber war der Strohhut mit der Nelke in der Hand. Mechanisch murmelte Vater die Namen der Genossen des Politbüros, endlich hatten wir ihn entdeckt.
Mein Sohn und ich hatten einige Fahrten hinter uns gebracht, einmal durfte ich schon eine Zigarette zum Verschnaufen rauchen, doch nirgendwo war man vor der Musik sicher, als wir wieder auf dem Hauptplatz waren, sammelte sich die Menge. Die Musik wurde lauter, ich organisierte Zuckerwatte. Die Kameras klickten schneller. Schneewittchen, die Schöne und das Biest, Dornröschen, Pluto, Mickeymouse, alle Märchen der Welt fuhren an uns vorbei. Alle winkten. Neben mir sah ich die Menschen aus allen Ländern, in allen Hautfarben.
So hatte es man uns in der Schule gelehrt. Freundschaft hieß der Gruß. Am Höhepunkt hatten wir uns das Bild angesehen, ein Kind für jede Seite, weiß, schwarz, rot, gelb, alle vereint. Wir fuhren mit dem Boot, es schwankte weich. Eine Fahrt über die Erde, die Kinderfiguren lächelten und winkten, Griechenland mit kleiner Akropoliskulisse, spanische Kinder, indianische mit der Freiheitstatue, Negerkinder mit Strohröckchen, das immer gleiche Lied, nun mit Balalaikaklängen für die russischen Kinder mit Bär. Mein Sohn schrie die Namen der Länder, mir wurde schlecht.
Als nächstes ging es ins Futureland, hier gab es ein Kino. Wieder ließ man uns erst nach längerem Warten in den Saal. Es war nicht einfach, Brille und Kopfhörer unterzubringen. Mein Sohn zeigte mir den Knopf für die richtige Sprache. Der Professor hatte eine Maschine erfunden, die groß und klein verschieben konnte. Ein bekannter Schauspieler erklärte das Prinzip. Alles lief schief, was Lacher produzierte. Zunächst wurde die Schlange dem Strahl der Maschine ausgesetzt und kroch nun riesig auf uns zu. Die Mäuse vermehrten sich so, dass zu meinen Füßen ein Krabbeln einsetzte, was mich schockte. Im Tohuwabohu der schreienden Menge auf der Leinwand und im Saal, richtete sich der Strahl der Maschine auf uns, der Raum schien sich zu verkleinern, so dass wir uns im Maul des Hundes vom Professor befanden, der den ganzen Kinosaal bewegte. Am Schluss schüttelte sich der riesige Hund vor uns und ein Schauer aus seinem Fell prasselte auf uns nieder. Vater und ich hatten uns aus dem Demonstrationszug entfernt. Ich blickte sehnsüchtig auf die Karussells, die sich aber noch nicht drehten, nur hin und wieder sah man schon die ersten besoffenen Väter vor den Buden. Wenn es wenigstens zu einer Bockwurst auf Pappe reichen würde, ich mochte den scharfen Senf zur Schrippe, aber Vater brachte mich pünktlich zum Nachmittag zurück zur Mutter. Erst hier gab es endlich das Würstchen mit Kartoffelsalat. Vielleicht dürfte ich später mit ein bisschen Taschengeld ausgestattet noch mal allein zum Volksfest gehen. Ich hatte es geschafft, nach dem Gespensterhaus gingen wir zur Bahn, mein Sohn schwieg. War ich schuldig, weil ich ihn zu früh aus dem Paradies genörgelt hatte?
André Herzberg, geboren 1955 als jüngster Sohn kommunistischer Eltern, ist Sänger und Autor und lebt in Berlin.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.