1:1 CONCERTS, jetzt auch in Berlin

Coronakrise Karl Kronthaler spielt Orgel nur für mich

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An diesem Mittwochnachmittag war ich bei einer Live-Performance, die sich zwischen mir und meinem Gegenüber eine Viertelstunde lang ereignete.

Sie wird als Teil eines von der Flötistin Stephanie Winker, der Szenografin Franziska Ritter, dem Kulturvermittler Christian Siegmund und der Architektin Sophie von Mansberg für das 2019er Kammermusikfestival „Sommerkonzerte Volkenroda“ entwickelten 1:1-Konzertformats gehandelt, das sich wiederum von Marina Abramovićs berühmter Kunstaktion The Artist is Present (MoMA, 2010) inspirieren ließ - die weltberühmte Künstlerin verweilte ihrer Zeit ein Vierteljahr lang Tag für Tag auf einem Stuhl und blickte über fünfzehnhundert zahlenden BesucherInnen in die Augen [lasst uns etwas später noch einmal darauf zurückkommen].

Dieses Projekt wurde von Freunden und Kollegen des Erfinder-Teams mit Enthusiasmus aufgegriffen und verbreitete/ verbreitet sich seither unter der Formel 1:1 CONCERTS.

Im virulenten Umfeld der anhaltenden Corona-Pandemie - und wir erinnern uns, dass Schlag auf Schlag ab Mitte März d.J. alle kulturellen Einrichtungen (Theater, Konzerthäuser, Museen, Galerien, Kinos usw.) schließen mussten und nur schneckentempomäßig nach und nach und unter Einhaltung regidester Hygienevorschriften und Abstandsregeln wieder öffnen dürfen - kam das obige Format genau zur rechten Zeit, denn Ziel sei auch, "durch die Zusammenführung von Musiker*innen, Hörer*innen, Gastgeber*innen über koordinierende Institutionen einen substantiellen Beitrag zum Erhalt unserer Kulturlandschaft zu leisten: Die von den Konzertbesucher*innen erbetenen freiwilligen Spenden fließen direkt in den Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung oder vergleichbare regionale Fonds. Mit den Geldern werden Musiker*innen unterstützt, die durch die Corona-bedingte Absage aller Konzerte und Aufführungen ihre Einkünfte verloren haben und existentiell bedroht sind."

Mittlerweile gibt es 1:1 CONCERTS außer in Stuttgart, wo sie starteten, auch in den Städten Erfurt, Freiburg, Dresden und Berlin. Auf der zentralen Website [s.u.] können sich sowohl die potenziellen Gastgeber also Verantwortlichen oder Zuständigen der infrage kommenden Konzertorte als auch die für die dortigen Konzerte sich interessierenden Musiker eintragen; es werden dann diverse Zeitfenster, die je nach Angebot von den Besuchern vorzubuchen wären, angezeigt, ja und dann braucht man als Besucher nur noch auf eine bestätigende Email warten und geht einfach zum vereinbarten Termin dorthin...

Eingebetteter Medieninhalt

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Ich saß also auf einem Stuhl auf der Empore der St. Augustinus-Kirche im Berliner Prenzlberg über zwei Meter von Karl Kronthaler (einem durchs In- und Ausland weit gereisten und berühmten Organisten, Pianisten, Chorleiter und Hochschulprofessor) entfernt mit Blickrichtung zu ihm, der mir am Anfang - ehe er sich dann zu seinem Jehmlichorgel-Spieltisch umdrehte, um ausschließlich für mich (und nur für mich allein!) zu musizieren - ungefähr 60 Sekunden lang (+/- 5-10 sec .) in die Augen sehen musste so wie umgekehrterweise ich dann ihm; so lautete die Vorschrift in dem Infoblatt Hörer*innen:

"Ihre Kommunikation mit dem/der Musiker*in findet ganz in der Stille statt. Nun wird der/die Musiker*in Blickkontakt mit Ihnen aufnehmen und diesen für ca. 1 Minute halten. Hieraus ergibt sich eine für viele Teilnehmer ungekannte Unmittelbarkeit, aus der die Musik erwächst - im harmonischen Einklang zwischen Hörer*in und Musiker*in. [Hier folgt der Querverweis auf Abramović; s.o.] Versuchen Sie sich auf diesen vielleicht anfangs ungewöhnlichen Kontakt einzulassen, denn aus diesem Blickkontakt heraus wählt der/die Musiker*in das Stück aus, das für ihn/sie zu dieser individuellen Begegnung passt."

Gesagt, getan.

Doch wenn es bloß so einfach wäre mit dem Blickkontakt, obgleich - verlockend ist es schon, mit einem Menschen, dem man nie zuvor direkt begegnete, auf diese Art und Weise eines sozusagen freiwilligen Zwangs den wohl für beide Seiten sich eröffnend-öffnenden Initialmoment als sprichwörtlichen Augenblick, quasi in Blitzeseile, zu erhaschen, um zu sehen oder gar zu spüren: Kann ich mit dem Gegenüber, oder kann ich nicht... Das ist schon mehr als experimentell, und eigentlich lässt es sich nachträglich natürlich NICHT beschreiben; ist halt so.

Karl Kronthaler spielte für mich die Toccata aus Johann Sebastian Bach Partita e-moll BWV 826 sowie den 1. Satz aus dessem Concerto a-moll nach Antonio Vivaldi BWV 593 und, als drittes Stück, eine Improvisation über das Kichenlied "Lobe den Herren meine Seele".

Und das alles war sooo... schön, weil es dann nur für mich (für mich allein!) stattfand.

Mein Gastgeber war übrigens Pater Max Cappabianca (ein römisch-katholischer Ordensgeistlicher und kirchlicher Journalist), der mich vor der im spätexpressionistischen Baustil errichteten Kirche der St. Augustinus-Gemeinde empfing, mich auf das bevorstehende 1:1 CONCERT kurz vorbereitete und danach zu Karl Kronthaler geleitete.

Ein Privileg also auch diesbezüglich.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 22.05.2020.]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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