30. EUROPAKONZERT der Berliner Philharmoniker

Coronakrise Der Bundespräsident bezeichnete Kunst & Kultur als "Lebensmittel" - nicht die schlechteste Metapher momentan

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Seit 30 Jahren begehen die Berliner Philharmoniker jeweils am 1. Mai ihren Geburtstag mit der selbst kreierten Reihe EUROPAKONZERT; das fing dann 1991 an, als sie mit ihrem damaligen Chefdirigenten Claudio Abbado Mozarts Don Giovanni-Ouvertüre im Smetana-Saal in Prag (der Uraufführungsstadt der Oper) intonierten... Seither geht es Jahr um Jahr an einen andern Ort unseres Kontinents, und immer sind es ganz speziell erwählte und auch ungewohnte Säle, wo gespielt wird; ob das jetzt das Vasa-Museum in Stockholm (1998), die Hagia Irene in Istanbul (2001), das Odeon des Herodes Atticus in Athen (2004), das Tschaikowski-Konservatorium in Moskau (2008), die Spanische Hofreitschule in Wien (2012) oder die norwegische Røros Kirke (2016) war - immer auch musizierten sie vor Ort dann mindestens ein landes- oder nationaltypisches Werk, und immer waren auch die Medien (TV, Hörfunk, später Internet) live mit dabei; und sowieso gestaltete sich dann die jeweilige Live-Ausstrahlung nicht zuletzt als schöne Festtagsgabe anlässlich auch des in vielen Ländern gesetzlich begangenen Maifeiertags...

In diesem Jahr war Tel Aviv als Auftrittsort geplant, zudem sollte ihm eine Israel-Tournee nachfolgen, und der Bundespräsident wollte dieses Konzert im Rahmen seines offiziellen Staatsbesuches (75 Jahre Unabhängigkeit des Staates Israel) mit seiner Anwesenheit adeln - es kam alles ganz, ganz anders:

Die Corona-Pandemie legte und legt - seit Mitte März - fast den gesamten Kunst- sowie Kulturbetrieb nicht nur europa- sondern weltweit lahm. Theater- und Konzertsäle wurden geschlossen, strengste Abstands- und Hygieneregeln eingeführt, Künstler und Publikum voneinander getrennt - "normales" Musizieren (auf der einen Seite die MusikerInnen, auf der andern Seite die ZuhörerInnen) findet bis auf weiteres nicht statt. Ja und vor allem: Existenzen stehen auf dem Spiel!! Niemand will heute annähernd vorhersagen, in welchem (nicht nur materiellen) Zustand sich unsere bis dahin als unangreifbar-unumstößlich wahrgenommene Kultur-Nation befinden wird, wenn alle diese fürchterlichen Einschränkungen irgendwann vorbei sein würden.

Eingebetteter Medieninhalt

Gut, dass das der Bundespräsident in seinem Grußwort vor dem Jubiläums-EUROPAKONZERT der Berliner Philharmoniker (aus der leeren Philharmonie!!) mit einem Wort zusammenfasste, dass nämlich Kunst und Kultur keine verzichtbaren Nebensachen, sondern "Lebensmittel"sseien - und man darf gespannt sein, wie die Politik sich in den nächsten Wochen, wenn es hoffentlich dann endlich auch um Existenzerhaltendes im Kunst- sowie Kulturbereich unseres Landes gehen muss, verantwortungsbewusst verhält.

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Kirill Petrenko stellte das für Tel Aviv geplante Programm - gemäß den behördlich angeordneten Abstands- und Hygieneregeln - dahingehend um, dass er Werke für maximal 15 MusikerInnen, die das Konzertpodium des Großen Saales einnehmen durften, aussuchte:

Arvo Pärts mystische Fratres (dt.: "Brüder") verleiten zur hörerischen Trance, ja und man will partout nicht, dass es aufhört. Dieses unendliche Atmen, wie es als ein Dreiklang in Arpeggien bricht... Pärt langte hierzu eine Gruppe Streicher und 1 Klangholz, 1 große Trommel.

Danach gab's Ramifications (dt.: "Verästelung"), ein kurzes Streicherstück von György Ligeti, im Jahre 1969 in Berlin uraufgeführt... Sofort assoziiert man an den legendären Kubrick-Film 2001, in dem bekannterweise auch auf Ligeti-Musik zurückgegriffen worden war.

Das herzzerreißende Adagio for Strings op. 11 von Samuel Barber - wer kennt es nicht?! [Die Fernsehmoderatorin verwies darauf, dass die Berliner Philharmoniker mit diesem Stück v.a. an die vielen Todesopfer dieser Pandemie gedachten wollten.]

Als letztes Werk erklang Mahlers Vierte Sinfonie - als einziger Programmpunkt, der dann auch für Tel Aviv gedacht gewesen war - , allerdings in einer kammermusikalischen Fassung von Erwin Stein; wann, wenn nicht heute, würde ausgerechnet DIESE Fassung jemals öffentlich zu hören gewesen sein?! Die Besetzung: 3 Bläser (Flöte, Klarinette, Oboe), 1 Klavier-, 1 Harmoniumspieler, 1 Schlagzeuger und Streicher, das war's. / Grandios gespielt! Und auch die kristalline Stimme von Christiane Karg, eine schier himmlische Verheißung!!

Gänsehaut.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 01.05.2020.]

30. EUROPAKONZERT DER BERLINER PHILHARMONIKER (Philharmonie Berlin, 01.05.2020)
Arvo Pärt: Fratres (Fassung für Streichorchester und Schlagzeug)
György Ligeti: Ramifications für Streicher
Samuel Barber: Adagio für Streicher op. 11
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 4 G-Dur (Bearbeitung für Kammerensemble von Erwin Stein)
Christiane Karg, Sopran
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Kirill Petrenko
Live-Übertragung im Ersten, im rbb und kostenlos in der Digital Concert Hall

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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